Lade Inhalt...

Erfolgsfaktor Betriebswirtschaftslehre

Was sie leistet und warum wir sie brauchen

von Burkhardt Schwenker (Autor:in) Sönke Albers (Autor:in) Wolfgang Ballwieser (Autor:in) Tobias Raffel (Autor:in) Barbara E. Weißenberger (Autor:in)
167 Seiten

Zusammenfassung

Wir brauchen eine starke Betriebswirtschaftslehre!
Mit fast einer Viertelmillion Studierenden ist Betriebswirtschaftslehre das mit Abstand beliebteste Studienfach in Deutschland. Mehr noch: Betriebswirtinnen und Betriebswirte finden schneller einen Job als andere Akademiker, sie verdienen im Durchschnitt besser und haben die Chance auf eine große Karriere. Denn über die Hälfte aller DAX-Vorstands- und -Aufsichtsratsmitglieder hat Betriebswirtschaftslehre studiert. Offensichtlich bietet die Betriebswirtschaftslehre ein attraktives Studium mit guten Perspektiven und vermittelt auch die Fähigkeiten, Unternehmen zu führen.
Trotzdem spiegelt sich dieser Befund in der öffentlichen Wahrnehmung nicht wider: Weil mit einigem Erfolg und weitgehend unwidersprochen von „Betriebswirtschaftsleere“ geschrieben werden kann oder gar davon, „wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt“ – und weil sich auch abseits von Polemik hartnäckig das Vorurteil hält, Betriebswirtschaftslehre sei kaum mehr als gesunder Menschenverstand plus ein paar mathematische Formeln.
Wir sind in Unternehmenspraxis und Forschung von der Betriebswirtschaftslehre überzeugt. Deshalb lässt uns diese Wahrnehmung nicht kalt. Mit diesem Buch möchten wir zeigen, dass es die Betriebswirtschaftslehre verdient, sichtbar zu sein, und warum Öffentlichkeit und Politik verstehen müssen, dass eine starke Betriebswirtschaftslehre heute mehr denn je gebraucht wird.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zum Inhalt:

Wir brauchen eine starke Betriebswirtschaftslehre!

Mit fast einer Viertelmillion Studierenden ist Betriebswirtschaftslehre das mit Abstand beliebteste Studienfach in Deutschland. Mehr noch: Betriebswirtinnen und Betriebswirte finden schneller einen Job als andere Akademiker, sie verdienen im Durchschnitt besser und haben die Chance auf eine große Karriere. Denn über die Hälfte aller DAX-Vorstands- und -Aufsichtsratsmitglieder hat Betriebswirtschaftslehre studiert. Offensichtlich bietet die Betriebswirtschaftslehre ein attraktives Studium mit guten Perspektiven und vermittelt auch die Fähigkeiten, Unternehmen zu führen.

Trotzdem spiegelt sich dieser Befund in der öffentlichen Wahrnehmung nicht wider: Weil mit einigem Erfolg und weitgehend unwidersprochen von „Betriebswirtschaftsleere“ geschrieben werden kann oder gar davon, „wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt“ – und weil sich auch abseits von Polemik hartnäckig das Vorurteil hält, Betriebswirtschaftslehre sei kaum mehr als gesunder Menschenverstand plus ein paar mathematische Formeln.

Wir sind in Unternehmenspraxis und Forschung von der Betriebswirtschaftslehre überzeugt. Deshalb lässt uns diese Wahrnehmung nicht kalt. Mit diesem Buch möchten wir zeigen, dass es die Betriebswirtschaftslehre verdient, sichtbar zu sein, und warum Öffentlichkeit und Politik verstehen müssen, dass eine starke Betriebswirtschaftslehre heute mehr denn je gebraucht wird.

 

Zu den Autoren:

Sönke Albers ist Professor of Marketing and Innovation an der Kühne Logistics University. Bis 2010 hatte er die Professur für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing, an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel inne.

Wolfgang Ballwieser ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und war bis März 2014 Direktor des Seminars für Rechnungswesen und Prüfung an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Tobias Raffel ist Geschäftsführer der Frankfurter Werte-Stiftung und freiberuflicher Autor und Projektmanager.

Burkhard Schwenker ist seit Juli 2015 Chairman of the Advisory Council von Roland Berger, der größten internationalen Unternehmensberatung europäischen Ursprungs. Zuvor war er dort Vorsitzender des Aufsichtsrats und langjähriger CEO. Außerdem lehrt er Strategisches Management an der HHL Leipzig Graduate School of Management.

Barbara E. Weißenberger ist seit 2014 Lehrstuhlinhaberin für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Controlling und Accounting, an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Affiliate Professor of Accounting an der Bucerius Law School, Hamburg.

Erfolgsfaktor
Betriebswirtschaftslehre

Was sie leistet und warum wir sie brauchen

 

von
Burkhard Schwenker
Sönke Albers
Wolfgang Ballwieser
Tobias Raffel
Barbara E. Weißenberger

 

 

 

 

 

 

Verlag Franz Vahlen München

5Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Kapitel 1 Erfolgsfaktor Betriebswirtschaftslehre: Eine Annäherung

1 Erfolgsfaktor Betriebswirtschaftslehre: Eine Annäherung

1.1 Unser Startpunkt: Zahlen, Daten, Fakten

1.1.1 Das Studium: Attraktiv!

1.1.2 Die Nachfrage: Hoch!

1.1.3 Die Promotion: Wertvoll!

1.2 Die Betriebswirtschaftslehre aus Sicht ­erfolgreicher ­Führungskräfte

1.2.1 Betriebswirtschaftliches Wissen entscheidet!

1.2.2 Herausforderungen und Defizite

Kapitel 2 Warum gute Betriebswirtschaftslehre wichtig ist: Ein ­Plädoyer

2 Warum gute Betriebswirtschaftslehre wichtig ist: Ein ­Plädoyer

2.1 Warum wir erfolgreiche Unternehmen brauchen

2.2 Erfolgreiche Unternehmen sind keine ­Selbstverständlichkeit

2.3 Unternehmen zu führen wird immer schwieriger

Kapitel 3 Wann, wo und wie Betriebswirtschaftslehre hilft: Die ­Fakten

3 Wann, wo und wie Betriebswirtschaftslehre hilft: Die ­Fakten

3.1 Eine Reise durch den Lebenszyklus

3.1.1 Erste Phase: Position besetzen

3.1.2 Zweite Phase: Verstetigen oder scheitern

3.1.3 Dritte Phase: Nachhaltig erfolgreich sein

3.1.4 Vierte Phase: Neustart oder Exit

3.2 Das Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns

3.2.1 Verantwortung: Wirtschaftsethik und Compliance

3.2.2 Verhalten: Corporate Governance und Incentives

3.2.3 Transparenz: Controlling und Rechnungslegung

3.2.4 Fairness: Steuergestaltung und Mitbestimmung

6 Kapitel 4 Wie gute ­Betriebswirtschaftslehre ­gemacht wird: Ein Blick in die ­Forschungswerkstatt

4 Wie gute ­Betriebswirtschaftslehre ­gemacht wird: Ein Blick in die ­Forschungswerkstatt

4.1 Warum Betriebswirtschaftslehre gute Forschung braucht

4.2 Wie Forschung funktioniert: Das Beispiel ­Strategieberichterstattung

4.3 Warum es auf die Vielfalt von Methoden und Theorien ankommt

4.4 Warum Forschung für die Praxis wichtig ist

Kapitel 5 Wie Politik und Privatpersonen ­profitieren: Ein Blick über den Tellerrand

5 Wie Politik und Privatpersonen ­profitieren: Ein Blick über den Tellerrand

5.1 Kein Politikfeld kommt ohne ökonomischen ­Sachverstand aus

5.2 Betriebswirtschaftliches Wissen verbessert unsere Entscheidungen im Alltag

5.3 Wenn BWL-Professoren zu Unternehmern ­werden

Kapitel 6 Betriebswirtschaftslehre weiterdenken: Über die Zukunft der universitären BWL

6 Betriebswirtschaftslehre weiterdenken: Über die Zukunft der universitären BWL

6.1 Vier mal vier Thesen zur Weiterentwicklung von ­Forschung und Lehre

6.1.1 Die richtigen Rahmenbedingungen: Exzellenz zählt!

6.1.2 „Rigor“ versus Relevanz: Die Balance muss stimmen!

6.1.3 Gute Lehre ist Teil der Exzellenz!

6.1.4 Kommunikation: Eindeutig proaktiver!

6.2 Leitlinien für eine neue Betriebswirtschaftslehre

6.3 Ein Plädoyer für mehr Zusammenarbeit

Schluss: Covid-19 und die ­Betriebswirtschaftslehre

Über die Autoren

Literaturhinweise

7Vorwort

Betriebswirtschaftslehre ist das mit Abstand beliebteste Studienfach in Deutschland. Mehr als 235.000 Studierende waren im Wintersemester 2019/2020 an betriebswirtschaftlichen Fakultäten eingeschrieben – mehr als doppelt so viele wie beispielsweise in Jura, Informatik oder Maschinenbau.

Und mehr noch: Betriebswirtinnen und Betriebswirte finden schneller einen Job als andere Akademiker, sie verdienen im Durchschnitt besser und haben die Chance auf eine große Karriere. Denn über die Hälfte aller DAX-Vorstände und -Aufsichtsräte hat Betriebswirtschaftslehre studiert. Was zweierlei zeigt: Offensichtlich bietet die Betriebswirtschaftslehre ein attraktives Studium mit guten Perspektiven, und ganz offensichtlich vermittelt sie die richtigen Fähigkeiten, um Unternehmen zu führen. Denn sonst wären wohl kaum so viele Betriebswirtinnen und Betriebswirte an führenden Stellen in unseren Unternehmen zu finden.

Warum dann ein Buch über Betriebswirtschaftslehre? Weil sich dieser Befund – aus unserer Sicht – in der öffentlichen Wahrnehmung der universitären Betriebswirtschaftslehre nicht widerspiegelt. Weil mit einigem öffentlichen Erfolg und weitgehend unwidersprochen von der „Betriebswirtschaftsleere“ geschrieben werden kann oder gar davon, „wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt“1. Weil sich auch abseits dieser Polemik hartnäckig das Vorurteil hält, die Betriebswirtschaftslehre sei kaum mehr als gesunder Menschenverstand plus ein paar mathematische Formeln. Dass es vor allem auf die intuitive Anwendung betriebswirtschaftlichen Wissens ankomme und weniger auf eine universitäre wissenschaftliche Durchdringung. Und dass die Betriebswirtschaftslehre deswegen als Fachhochschuldisziplin prädestiniert sei.

Als überzeugte Betriebswirtinnen und Betriebswirte in Forschung, Lehre und Praxis lässt uns diese Wahrnehmung nicht kalt. Darum haben wir dieses Buch geschrieben: als Plädoyer für eine universitäre Betriebswirtschaftslehre. Wir wollen dazu beitragen, dass sie sichtbarer wird und dass Öffentlichkeit und Politik besser verstehen, warum wir eine starke betriebswirtschaftliche Forschung und Lehre gerade an den Universitäten brauchen. Denn es geht um mehr als nur darum zu lehren, betriebswirtschaftliches Wissen auf bekannte Problemstellungen anzuwenden – das zu vermitteln ist Auftrag der Fachhochschulen. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, bestehendes Wissen auf neue Fragestellungen zu übertragen, und wenn kluge Lösungen fehlen, neues Wissen zu schaffen.2 8Denn sonst wird es nicht gelingen, fundierte Antworten auf große unternehmerische Fragen zu finden: Wie verbindet man Wachstum und Nachhaltigkeit? Wie gelingt ein Ausgleich zwischen Shareholder- und Stakeholder-Interessen? Wie führt und steuert man in einer Welt, die immer digitaler und ungewisser wird?

Geleitet hat uns bei diesem Buch eine doppelte Überzeugung: dass eine starke und fortschrittliche Gesellschaft leistungsfähige Unternehmen braucht, die Innovationen hervorbringen, verlässlich Steuern erwirtschaften und ein Arbeitsumfeld schaffen, in dem Menschen sich entfalten und ihren Lebensunterhalt verdienen können – und dass gute betriebswirtschaftliche Forschung und Lehre deshalb eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, um Unternehmen in diesem Sinne „besser“ zu machen. Und zwar durch die systematische Erforschung grundlegender Zusammenhänge und die Ableitung neuer Konzepte, die geeignet sind, die großen Fragen zu adressieren, die wir oben angesprochen haben. Und nicht zuletzt durch die Ausbildung junger Menschen, die eben mehr lernen, als „nur“ anzuwenden, sondern in der Lage sind, Zusammenhänge zu hinterfragen, die Grenzen von Modellen zu erkennen, zu reflektieren und daraus neue Ideen zu entwickeln.

Wenn eines heute sicher ist, dann das: In einer Zeit, die durch einen immer schnelleren und vor allem unumkehrbaren ökologischen, technologischen und global gesellschaftlichen Wandel gekennzeichnet ist, führt ein rückwärtsgewandtes Beharren auf alten Erklärungs- und Gestaltungsmustern des 20. Jahrhunderts Unternehmen in die Irre. Stattdessen brauchen wir neue Antworten. Die aktuellen betriebswirtschaftlichen Debatten um Stichworte wie „Purpose“ (Welchen gesellschaftlichen Beitrag leisten Unternehmen?), „New Work“ (Wie kann gute Arbeit im digitalen Zeitalter aussehen?), Agilität (Wie schnell und flexibel kann auf geänderte Rahmenbedingungen reagiert werden?) bis hin zu einem weit gefassten Verständnis von Transparenz (Wie sollen Unternehmen über das, was sie tun, informieren?) zeigen, dass daran mit Hochdruck geforscht wird.

Gute Betriebswirtschaftslehre geht also uns alle an. Wir haben dieses Buch deswegen auch für eine breite interessierte Öffentlichkeit geschrieben. Es ist kein Fachbuch, schon gar kein Lehrbuch über einzelne Instrumente oder Managementtools, sondern – so hoffen wir – eine verständlich geschriebene, gelegentlich auch pointierte, vor allem aber überzeugende „Beweisführung“, wo, wann und wie gute Betriebswirtschaftslehre hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Und dass es sich deshalb gerade auch gesellschaftspolitisch lohnt, in die universitäre Betriebswirtschaftslehre zu investieren.

Um dies (überzeugend) zu zeigen, haben wir für unsere Argumentation folgende Gliederung zugrunde gelegt: Ausgehend von einigen Zahlen, Daten und Fakten zur Betriebswirtschaftslehre und einer ersten Reflexion, wie 9die Leistungen der Betriebswirtschaftslehre aus der Sicht erfolgreicher und erfahrener Führungskräfte bewertet werden (Kapitel 1), nehmen wir in Kapitel 2 den Faden unserer ersten Überzeugung auf: dass gut geführte Unternehmen einen wichtigen Beitrag zum Gelingen unserer Gesellschaft leisten – und dass es leider immer noch keine Selbstverständlichkeit ist, dass Unternehmen gut geführt werden. Heute nicht und in Zukunft erst recht nicht, da die Herausforderungen an Unternehmensführung durch neue Technologien, neue Werteverständnisse oder auch geopolitische Veränderungen ständig steigen und allein schon deshalb die Weiterentwicklung der betriebswirtschaftlichen Theorien und Konzepte immer wichtiger wird.

In Kapitel 3 werden wir dann konkret an vielen Beispielen zeigen, wann, wo und wie genau betriebswirtschaftliche Ansätze und Denkweisen helfen (können), zu besseren unternehmerischen Entscheidungen zu kommen. Dafür haben wir das Modell eines „Lebenszyklus“ von Unternehmen zugrunde gelegt, das aus unserer Sicht einen intuitiv nachvollziehbaren Zugang zu unternehmerischen Entscheidungen bietet: Unternehmen werden gegründet, wachsen, kommen in eine Sättigung und gehen irgendwann unter. An jeder Stelle in diesem Lebenszyklus sind kluge Entscheidungen zu treffen, die, wenn es die richtigen sind, den Übergang in eine nächste Phase ermöglichen und schließlich verhindern helfen, dass es einen ungewollten „Untergang“ gibt. Alle diese Entscheidungen sind eingebettet in Rahmenbedingungen, die jenseits des Lebenszyklus von Bedeutung sind. Wir lassen uns dabei leiten vom Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns, der sich schon immer durch Verantwortung, gute Führung, Transparenz und Fairness auszeichnete.

Dabei geht es uns nicht um das in Wirtschaftsmagazinen häufig so beliebte „Name-Dropping“ von Managementmoden, sondern um eine auch persönlich geprägte Auswahl derjenigen betriebswirtschaftlichen Theorien und Konzepte, die aus unserer Sicht die Mächtigkeit und damit auch die Bedeutung betriebswirtschaftlichen Denkens zeigen.

Kapitel 4 wirft einen Blick in die Forschungswerkstatt der Betriebswirtschaftslehre. Anders gesagt: Wir gehen der Frage nach, woher das Wissen stammt, das in der Praxis wirklich gebraucht wird. Also wie gute universitäre Betriebswirtschaftslehre gemacht wird, was betriebswirtschaftliche Forschung ausmacht, wie sie zu Erkenntnissen kommt und wie es gelingt (und noch besser gelingen kann), diese Erkenntnisse zu kommunizieren und für die unternehmerische Praxis zugänglich zu machen.

In Kapitel 5 erweitern wir unseren Blickwinkel über Unternehmen hinaus: Betriebswirtschaftliches Denken beeinflusst auch unsere persönlichen oder privaten Entscheidungen – und nicht zuletzt auch politische, wenn es beispielsweise um Regulierungen oder wirtschaftliche Rahmenbedingungen geht. Gerade Letzteres ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt, spielt 10aus unserer Sicht aber eine wichtige Rolle für die gesellschaftliche Relevanz, die die universitäre Betriebswirtschaftslehre hat – oder haben sollte.

All dies zusammengenommen ergibt ein überzeugendes Bild der universitären Betriebswirtschaftslehre: Junge Menschen, die dieses Fach studiert haben, werden dringend gesucht – gerade dann, wenn es um wichtige und unternehmenskritische Aufgaben geht. Denn die Anwendung betriebswirtschaftlicher Theorien, Modelle und Konzepte hilft, bessere unternehmerische Entscheidungen zu treffen, Unternehmen erfolgreicher zu führen und so auch gesellschaftlich wertvolle Beiträge zu leisten. Aber unser Plädoyer wäre unvollständig, wenn wir uns nicht auch fragen würden, ob dies auch für die Zukunft gilt.

Unser abschließendes Kapitel 6 beschäftigt sich deswegen mit der Zukunft der universitären Betriebswirtschaftslehre: Tragen ihre Konzepte noch, wenn sich das unternehmerische Umfeld so schnell und radikal verändert wie derzeit? Sollten neue und andere Schwerpunkte und Themen gesetzt werden? Wie funktioniert gute Lehre in digitalen Umfeldern? Und vor allem: Ist es richtig, wenn sich die universitäre Betriebswirtschaftslehre immer mehr verwissenschaftlicht, wenn Promotionen immer stärker der wissenschaftlichen Qualifikation dienen und weniger eine besonders breite und tiefe Qualifizierung für die Praxis darstellen? Oder wenn Publikationen vor allem daran gemessen werden, ob sie „A-Journal-fähig“ sind, also in den renommiertesten wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden können?

Diese Fragen zur Zukunft der Betriebswirtschaftslehre sind nicht einfach zu beantworten – und auch innerhalb unseres Autorenteams umstritten. Wie auch die Einstellung zu einigen anderen Positionen in diesem Buch, was auch der ganz unterschiedlichen Herkunft und Erfahrung der Mitglieder unseres Teams geschuldet ist. Dass es uns nach vielen Diskussionen und Streitgesprächen trotzdem gelungen ist, gemeinsam und aus Überzeugung ein Plädoyer für die universitäre Betriebswirtschaftslehre zu schreiben, spricht für die innere Stärke und Bedeutung unseres Faches.

Um jenseits unserer eigenen Erfahrungen ein plausibles Bild davon zu gewinnen, wie erfolgreiche Führungskräfte die Betriebswirtschaftslehre beurteilen, haben wir im März und April 2019 die deutschsprachigen Alumni der Strategieberatung Roland Berger befragt3 – unseres Wissens nach die erste systematische Umfrage zur Reputation der Betriebswirtschaftslehre unter Praktikern überhaupt. 454 Alumni haben sich daran beteiligt; viele davon – aber keineswegs alle – sind selbst Betriebswirte. Was sie eint, ist, dass sie heute Verantwortung in den Vorständen, Geschäftsführungen oder oberen Managementebenen von Unternehmen nahezu aller Branchen und Größenklassen tragen und bereit waren, mit uns über den Sinn und Unsinn von Betriebswirtschaftslehre nachzudenken. Die Ergebnisse dieser Umfrage fließen an verschiedenen Stellen in die Gedankengänge 11dieses Buches ein. Wir danken allen Teilnehmenden, dass sie sich unseren umfangreichen Fragenkatalogen gestellt haben!

Ein wichtiger Geburtshelfer für dieses Buch war der Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaftslehre (VHB), der demnächst sein 100-jähriges Bestehen feiert und dem die Autoren eng verbunden sind.

 

Berlin, Düsseldorf, Hamburg, München

Juli 2020

 

 

PS: Während des Schreibens an diesem Buch hat uns, wie alle anderen auch, die Coronakrise überrascht und uns vor die Frage gestellt, ob unsere Aussagen über den Nutzen der universitären Betriebswirtschaftslehre überhaupt noch richtig sind – oder ob wir dieses Buch neu schreiben müssen. Wir sind der Überzeugung, dass das nicht der Fall ist; mehr dazu in unserem Schlusskapitel.

13Kapitel 1

Erfolgsfaktor Betriebswirtschaftslehre: Eine Annäherung

Trägt die Betriebswirtschaftslehre tatsächlich zum Erfolg bei? Ein Blick auf die Fakten zeigt: Das ­Studium ist attraktiv, die Studieren­denzahlen sind hoch und viele Führungskräfte besitzen eine ­betriebswirtschaftliche Promotion. Mit anderen ­Worten: ­Betriebswirtschaftliches Wissen entscheidet!

151 Erfolgsfaktor Betriebswirtschaftslehre: Eine Annäherung

Wie kann man sich der Betriebswirtschaftslehre – oder besser: ihrer Bedeutung – am besten nähern? Wohl am ehesten dadurch, dass wir zunächst Fakten sammeln: Wie beliebt ist das Studium, auch im Vergleich mit anderen Studiengängen? Wie lange braucht man für das Studium? Wie gut oder schlecht sind die Job- und Karriereaussichten? Und vor allem: Welche Rolle spielen Betriebswirtinnen und Betriebswirte, wenn es um die Führung von Unternehmen geht?

Die Fakten zeigen – das sei hier schon vorweggenommen – ein sehr positives Bild: Das Studium ist attraktiv, effizient, öffnet den Blick; die Absolventinnen und Absolventen finden gute Jobs – und ja: Es sind oft Betriebswirtinnen und Betriebswirte, die Unternehmen führen und verantworten! Aber stimmt dieses Bild auch inhaltlich? Hilft Betriebswirtschaftslehre tatsächlich, Unternehmen „besser“ zu machen, wie wir im Vorwort formuliert haben? Wir haben deswegen nicht nur Zahlen und Fakten gesammelt, sondern auch erfahrene und erfolgreiche Führungskräfte nach ihrer Sicht auf die Betriebswirtschaftslehre gefragt. Mit einer klaren Antwort: Betriebswirtschaftliches Wissen entscheidet über den Erfolg von Unternehmen!

1.1 Unser Startpunkt: Zahlen, Daten, Fakten

1.1.1 Das Studium: Attraktiv!

Wir haben es eingangs schon erwähnt: Betriebswirtschaftslehre ist mit großem Abstand der beliebteste Studiengang in Deutschland.4 Im Wintersemester 2019/2020 studierten 236.951 Studierende „BWL“, wie das Fach gern abgekürzt wird, und noch einmal 271.902 andere wirtschaftswissenschaftliche Fächer wie Wirtschaftsingenieurwesen, Wirtschaftsinformatik oder Volkswirtschaftslehre, in denen Betriebswirtschaftslehre eine wichtige Rolle spielt.

Nehmen wir beide Zahlen zusammen, so studieren mehr als viermal so viele junge Menschen Wirtschaft als beispielsweise Jura (117.117), Infor­matik (127.537) oder Maschinenbau (104.177). Aber es ist nicht nur die schiere Anzahl von BWL-Studierenden, die uns einen guten Startpunkt für 16unser Plädoyer bietet; ein tieferer Blick in die Statistiken zeigt weitere positive Argumente, die ein betriebswirtschaftliches Studium auszeichnen:

  • Geringe Abbruchquote: Nur 27 % der Studierenden, die im Wintersemester 2012/2013 ihr Studium aufgenommen haben, sind ohne Abschluss vorzeitig ausgestiegen – deutlich weniger als beispielsweise in Maschinenbau (34 %), Chemie/Physik (45 %) oder Informatik (46 %).5
  • Effiziente Studienzeiten: 86 % der Bachelor- und sogar 87 % der Masterstudierenden machen ihren Abschluss spätestens zwei Semester nach Ende der Regelstudienzeit – in Fächern wie Informatik oder Maschinenbau gelingt dies weniger als 75 % der Studierenden.
  • Hohe Auslandserfahrung: Immerhin zwei von drei BWL-Studierenden verbringen einen Teil ihres Studiums im Ausland – deutlich mehr als Ingenieure (31 %), Mediziner (22 %) oder Naturwissenschaftler (9 %). Das heißt noch nicht, dass auch das Studium selbst international genug ausgerichtet ist (dazu später mehr), aber schon, dass es dazu anregt, die Welt kennenlernen zu wollen.

Etwas Weiteres kommt hinzu: In keinem anderen Studiengang ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen so ausgeglichen wie in den wirtschaftswissenschaftlichen Fächern. Der Frauenanteil liegt bei 48,4 %, während in anderen Studienfächern entweder die Studentinnen stark dominieren – beispielsweise in der Psychologie (75 %), der Germanistik (77 %) oder der Pädagogik (78 %) – oder deutlich in der Minderheit sind (Physik 29 %, Informatik 18 %, Elektrotechnik 13 %). Mit anderen Worten: Auch in Sachen Diversity liegt die Betriebswirtschaftslehre weit vorn!

1.1.2 Die Nachfrage: Hoch!

All die genannten Zahlen werfen ein aus unserer Sicht sehr gutes Licht auf die Betriebswirtschaftslehre: Sie ist attraktiv, effizient und hat nicht zuletzt weltoffene Studierende. Aber das heißt zunächst ja noch nichts. Denn böswillig interpretiert könnten die Zahlen auch das Vorurteil bestätigen, die Betriebswirtschaftslehre sei ein vergleichsweises einfaches Studium, das relativ verlässlich – ein wenig Fleiß vorausgesetzt – zu einem akademischen Abschluss führt.

Wir haben uns deswegen auch die Nachfrageseite angeschaut: Finden junge Menschen nach Abschluss ihres BWL-Studiums einen Job? Werden sie gut bezahlt (auch das ist ja ein Hinweis darauf, ob Betriebswirtschaftslehre etwas „wert“ ist)? Und vor allem: Wer führt Unternehmen eigentlich? Sind es Betriebswirte, oder sind es doch die Absolventen anderer Disziplinen, die Unternehmen oder wichtige Funktionsbereiche verantworten? Auch hier sprechen die Zahlen eine eindeutige Sprache:

  • 17Betriebswirtinnen und Betriebswirte finden schnell einen Job: Die Arbeitslosenquote für Absolventen betriebswirtschaftlicher Studiengänge lag 2018 mit 1,3 % auf verschwindend geringem Niveau.6
  • Betriebswirtinnen und Betriebswirte werden besser bezahlt: Bereits Berufseinsteiger verdienen derzeit mit etwa 46.500 Euro/Jahr gut7 und können mit zunehmender Berufserfahrung den Abstand zu anderen Berufsgruppen sogar erheblich ausbauen.8

Betriebswirte sind ihren Arbeitgebern also etwas wert – oder anders gesagt: Sie leisten ganz offensichtlich wichtige und wertvolle Aufgaben, für die andere bereit sind, entsprechend zu zahlen. Aus unserer Sicht ist dies auch richtig, denn gerade Betriebswirte werden dafür ausgebildet, anspruchsvolle und komplexe Herausforderungen anzugehen und in Führung umzusetzen – etwa das Erkennen und Aufgreifen von Trends, die Interaktion mit der Unternehmensumwelt oder die Ableitung geeigneter Maßnahmen. Deswegen überrascht es nicht, dass Absolventinnen und Absolventen der Betriebswirtschaftslehre ganz eindeutig die obersten Führungsebenen deutscher Unternehmen dominieren:

  • 57 % aller Vorstände von DAX-30-Gesellschaften sind Betriebswirte; weit abgeschlagen folgen Ingenieure und Naturwissenschaftler (jeweils 14 %) und Juristen (10 %).9
  • 46 % aller Aufsichtsräte von DAX-30-Gesellschaften sind ebenfalls Betriebswirte, gefolgt von Juristen (19 %) und Ingenieuren (15 %).10

Ein ähnliches Bild zeigt sich übrigens auch für die Gesellschaften in Aktienindizes für kleinere Unternehmen: Im MDAX haben sogar 58 % aller Vorstandsvorsitzenden einen betriebswirtschaftlichen Abschluss. Und noch etwas ist aus unserer Sicht in diesem Zusammenhang bemerkenswert: Auch in dem für Deutschland so wichtigen Start-up-Bereich spielen Betriebswirte eine entscheidende Rolle. 41 % der Gründerinnen und Gründer haben Betriebswirtschaftslehre studiert – das sind deutlich mehr als die eigentlich zu erwartenden Ingenieure oder Informatiker, die jeweils bei nur 17 % liegen.11

Das sind überzeugende Zahlen, wie wir finden, die noch überzeugender werden, wenn wir auf ihre Dynamik schauen: Der Anteil der Betriebswirte unter den Vorständen der DAX-30-Gesellschaften ist von 48 % (2005) auf die vorgenannten 57 % gestiegen. Von den 30 Personen, die 2018 in einen solchen Vorstand berufen wurden, haben sogar 63 % Betriebswirtschaftslehre studiert. Und auch unter den Gründerinnen und Gründern hat sich der Anteil der Betriebswirte erhöht: von 35 % im Jahr 2014 auf 41 % im Jahr 2018. Aus unserer Sicht sind dies ganz klare Indizien dafür, dass betriebswirtschaftliches Wissen an der Spitze von Unternehmen – ob groß oder klein – nachgefragt und gebraucht wird. Und warum? Weil das Führen von Unternehmen immer schwieriger wird. Dazu später mehr.

181.1.3 Die Promotion: Wertvoll!

Die obigen Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache und untermauern eindrücklich unser Plädoyer für die Betriebswirtschaftslehre. Aber das allein sagt noch nichts über die Wissenschaftlichkeit aus. Und da es uns vor allem um eine Verteidigung der universitären Betriebswirtschaftslehre geht, führen wir außerdem Argumente auf, die den wissenschaftlichen Anspruch der Betriebswirtschaftslehre bestätigen.

Dass die meisten Top-Führungskräfte an einer Universität studiert haben und eben nicht an einer Fachhochschule, gibt uns schon einen wichtigen Hinweis: Anwendungsorientiertes Wissen reicht offensichtlich nicht, wenn es um anspruchsvolle Führungsaufgaben und das Treffen wichtiger Unternehmensentscheidungen geht. Wir wollten es aber noch genauer wissen und haben deswegen analysiert, welche Rolle eine Promotion spielt. Denn aus unserer Sicht spiegelt gerade die Promotion – also das tiefe Durchdringen und Reflektieren relevanter betriebswirtschaftlicher Probleme – den wissenschaftlichen Anspruch wider, den die universitäre Betriebswirtschaftslehre ausmacht.

Selbstverständlich ist die Promotion Voraussetzung für eine erfolgreiche wissenschaftliche Laufbahn, aber ganz offensichtlich auch für eine in der Wirtschaft, denn

  • fast jeder zweite (47 %) Vorstandsvorsitzende einer DAX-30-Gesellschaft hat promoviert;
  • unter allen Vorständen der DAX-30-, MDAX-, SDAX- und TecDAX-Unternehmen ist mehr als jeder Dritte promoviert;
  • unter den Top-Führungskräften mit Doktortitel wurden die allermeisten (68 %) in Wirtschaftswissenschaften promoviert (davon der überwiegende Teil in Betriebswirtschaftslehre).

Interessanterweise stellt sich dabei auch heraus, dass eine Promotion immer noch mehr zählt als ein MBA-Abschluss: 2018 wurden dreimal mehr Promovierte in einen Vorstand berufen als MBA-Absolventinnen und -Absolventen.

Dass Top-Führungskräfte so häufig promoviert sind, ist unseres Erachtens auf zwei wichtige Faktoren zurückzuführen: Erstens werden nur die talentiertesten Absolventen für eine Promotion zugelassen, und zweitens beschäftigen sie sich während der Promotion mit der Beantwortung intellektuell herausfordernder Fragestellungen, so wie sie sich auch in Unternehmen immer häufiger stellen. Das bedeutet nichts anderes als: Wer gelernt hat, etwas eigenständig und tief zu durchdringen, ist auch besser im Durchdringen komplexer, neuer Sachverhalte, wie sie sich in der unternehmerischen Praxis präsentieren.

19Genau das bestätigt auch eine zweite Quelle: Bei unserer Umfrage unter erfolgreichen Führungskräften haben wir nach der Bedeutung der Promotion gefragt – und nach der Motivation, zu promovieren: 8 % haben aus Eitelkeit promoviert (der Titel macht immer noch etwas her), 17 % aus Karriereüberlegungen (die Bestätigung für die Rationalität dieses Motivs haben wir gerade geliefert), aber 75 % aus wissenschaftlicher Neugier und aus Interesse an einer tiefen Durchdringung eines Themas. Eine schönere Bestätigung für die Sinnhaftigkeit einer Dissertation lässt sich kaum finden!

Abb. 1: Zahlen, Daten und Fakten zur Betriebswirtschaftslehre

1.2 Die Betriebswirtschaftslehre aus Sicht ­erfolgreicher ­Führungskräfte

Die Frage, was die BWL bringt, dürfte durch die genannten Zahlen, Daten und Fakten eine erste Antwort gefunden haben. Mit unserer Annäherung an den „Erfolgsfaktor Betriebswirtschaftslehre“ wollen wir aber nicht nur der Frage nachgehen, was die BWL im Sinne von Karrierechancen oder Berufs- und Einkommensmöglichkeiten nützt, sondern auch herausfinden, was die Betriebswirtschaftslehre inhaltlich bringt: Trägt sie wirklich dazu bei, Unternehmen besser zu führen?

Dazu haben wir – wie bereits angesprochen – erfolgreiche Führungskräfte nach ihrer Sicht auf die Betriebswirtschaftslehre gefragt. Dies ist unserer Kenntnis nach die erste umfassende Befragung zur Sinnhaftigkeit der Betriebswirtschaftslehre unter Topmanagern überhaupt. Wir wollten dabei wissen,

  • wie wichtig betriebswirtschaftliches Wissen tatsächlich für den Erfolg von Unternehmen ist;
  • ob die Theorien und Konzepte der Betriebswirtschaftslehre konkret helfen, Unternehmen besser zu machen;
  • 20ob das BWL-Studium eine spezifische Art des Denkens vermittelt – und ob man jungen Menschen auch heute noch empfehlen kann, Betriebswirtschaftslehre zu studieren.

Befragt haben wir Alumni der Strategieberatung Roland Berger. Aus zwei Gründen: zum einen, weil wir durch den persönlichen Zugang die Chance hatten, eine große Zahl von Führungskräften zu erreichen und zur Beantwortung unseres umfangreichen Fragebogens zu motivieren. Und zum anderen, weil die Alumni einer großen Beratungsgesellschaft zwei aus unserer Sicht wichtige Eigenschaften kombinieren: eine konzeptionell/strategische Sicht auf die Unternehmensführung aus ihrer Zeit als Strategieberater sowie konkrete, praktische Erfahrungen aus ihrem unternehmerischen Alltag als Top-Führungskräfte.

Insgesamt haben sich 454 Alumni aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligt. Davon arbeiten 35 % in großen Konzernen, weitere 35 % im Mittelstand. 50 % sind als Vorstand oder Geschäftsführer tätig, weitere 40 % in Leitungsfunktionen auf der zweiten Führungsebene. Nahezu alle (95 %) haben an einer Universität studiert und entsprechen damit genau unserem Suchprofil, davon 79 % Betriebswirtschaftslehre. Übrigens: 36 % sind promoviert – genau der Schnitt jener Gesamtzahlen, über die wir oben berichtet haben.

Abb. 2: Unsere Führungskräftebefragung – eine kritische Bestandsaufnahme aus Praxissicht

1.2.1 Betriebswirtschaftliches Wissen entscheidet!

Bezogen auf unsere Kernfrage „Was bringt die Betriebswirtschaftslehre inhaltlich?“ lassen sich die Ergebnisse unserer Befragung zu fünf Kernaussagen zusammenfassen:

Erstens: Das Wichtigste vorweg – Betriebswirtschaftslehre hilft, Unternehmen besser zu führen! Denn 82 % unserer Teilnehmer haben auf die Frage „Wie wichtig ist betriebswirtschaftliches Wissen für den Erfolg Ihres Unternehmens?“ 21mit „sehr wichtig/wichtig“ geantwortet. Eine schönere Bestätigung unserer Ausgangsthese hätten wir uns nicht wünschen können!

Übrigens sind auch 83 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ebenso wie wir der Meinung, dass ein BWL-Studium besser auf die Arbeitswelt in Unternehmen vorbereitet als andere Studienfächer.

Zweitens: Die betriebswirtschaftliche Forschung liefert relevante Ergebnisse! Gefragt nach den Feldern bzw. Gebieten, auf denen die betriebswirtschaftliche Forschung besonders wichtige Erkenntnisse für die Praxis gewonnen hat, werden vor allem Controlling/Rechnungswesen, Finanzwirtschaft, Marketing, Strategie und Organisation/Personal genannt.

Dass die eher operativen Themen wie Produktion oder Supply-Chain-Management oder technische Fragestellungen zum Einsatz digitaler Technologien nicht an vorderer Stelle genannt werden, hängt sicher auch damit zusammen, dass die überwiegende Mehrzahl unserer Teilnehmer die Fragen aus einer Topmanagement-Perspektive beantwortet hat, während operative Themen traditionell eher auf zweiter oder dritter Ebene angesiedelt sind. Trotzdem sind aus unserer Sicht auch dies wichtige Aspekte im betriebswirtschaftlichen Studium.

Drittens: Betriebswirtschaftliche Konzepte werden in der Unternehmenspraxis angewendet – und zwar tagtäglich! Bezogen auf die Frage, welche davon im unternehmerischen Alltag von Top-Führungskräften regelmäßig genutzt werden und Grundlage für das Treffen wichtiger unternehmerischer Entscheidungen sind, werden insbesondere genannt (in absteigender Reihenfolge):

  • Alle Konzepte rund um die Unternehmensplanung, vor allem Fragen der Unternehmensbewertung, des Risikomanagements oder der Entwicklung neuer Finanzierungskonzepte;
  • strategische Ansätze, von der Entwicklung von (Zukunfts-)Szenarien über klassische „Strategietools“, wie zum Beispiel Portfolioanalysen, bis hin zu neuen Methoden der Markt- und Wettbewerbsanalyse;
  • Führungsthemen, vor allem Change-Management-Ansätze oder Fragen der Teamführung, bis hin zu neuen Organisationskonzepten;
  • Controllingkonzepte, die in der betrieblichen Praxis nach wie vor eine wichtige Rolle spielen: Prozesskosten, das Management von Investitionen oder auch moderne Formen der Management-Erfolgsrechnung.

Viertens: Erfolgreiche Führungskräfte halten die Ergebnisse der betriebswirtschaftlichen Forschung für relevant – und nutzen sie! Dass zu den Forschungsthemen, die aus Sicht der Praxis aktuell besonders interessant sind, Themen rund um die digitale Transformation wie künstliche Intelligenz oder die Nutzung von Big Data gehören, ist nicht weiter erstaunlich. Aber schon, dass auch Fragen der Unternehmensführung oder neue Formen des strategischen Managements dazu gezählt werden – für uns 22ein klares Indiz dafür, dass Unternehmensführung tatsächlich schwieriger wird (und neue Antworten erfordert), wie wir im Vorwort behauptet haben.

Abb. 3: Relevante BWL-Forschung – welche Forschungsergebnisse erfolgreiche Führungskräfte besonders nachfragen (Antworten in %)12

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass alle Themen rund um Behavioral Economics (ökonomische Verhaltensforschung) für relevant gehalten werden, ebenso wie die Forschungsansätze, die sich mit ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Für uns ist dies ein klares Zeichen dafür, dass die üblichen Vorurteile, die Betriebswirtschaftslehre habe nur den „Homo oeconomicus“ im Blick und unterstelle damit, dass Menschen ausschließlich am eigenen wirtschaftlichen Erfolg interessiert seien, nicht zutreffen.

Fünftens: Die Betriebswirtschaftslehre vermittelt die richtigen Denkweisen! Dass aus Sicht unserer Teilnehmer vor allem analytisches und finanzielles, aber auch strategisches Denken genannt wird, ist für uns eine gute Nachricht. Denn unternehmerische Entscheidungen erfordern aus unserer Sicht nicht nur ein logisches und vor allem planerisches Denken in finanziellen Dimensionen, sondern auch eine ganzheitliche Sicht, die ökologische und soziale Konsequenzen einbezieht. Dass zu dieser anspruchsvollen Aufgabe auch eine quantitative, mathematische Orientierung bereits im Studium gehört, die den Intellekt schärft, wird von 65 % der befragten Führungskräfte bestätigt.

Allerdings gilt in diesem Zusammenhang auch: Dass kreatives oder unternehmerisches Denken erst auf den hinteren Rängen genannt wird (Rang 5 und 6), muss uns zu denken geben – dazu später mehr.

Zu den erfreulichen Ergebnissen unserer Umfrage gehören auch die Antworten auf zwei persönliche Fragen, die wir unseren Führungskräften abschließend gestellt haben: „Würden Sie rückblickend sagen, dass Sie das 23richtige Studienfach gewählt haben?“ Und: „Würden Sie Abiturientinnen und Abiturienten auch heute raten, Betriebswirtschaftslehre zu studieren?“ Die Antworten sprechen eine eindeutige Sprache: 81 % der befragten Führungskräfte, die selbst Betriebswirtschaftslehre studiert haben, sagen, dass sie das richtige Fach studiert haben. Und 65 % würden jungen Menschen auch heute raten, Betriebswirtschaftslehre zu studieren – übrigens nicht nur die Betriebswirte unter unseren Befragten, sondern auch 66 % der Mathematiker, 60 % der Juristen und fast die Hälfte der Ingenieure (48 %).

1.2.2 Herausforderungen und Defizite

Spiegelbildlich zu den positiven Ergebnissen unserer Umfrage zeigen sich auch Defizite – oder besser: Herausforderungen –, denn selbstverständlich haben wir auch danach gefragt, was in der Betriebswirtschaftslehre nicht gut läuft, was verbessert werden könnte und wo zukünftig Schwerpunkte liegen sollten.

Bezogen auf die (universitäre) betriebswirtschaftliche Lehre sind vor allem folgende Ansatzpunkte genannt worden: Das BWL-Studium sollte

  • stärker auf Entrepreneurship, unternehmerisches Denken und Innovation eingehen (sagen 74 %);
  • mehr Wissen (und Reflexion) über das internationale und aktuelle Wirtschaftsgeschehen vermitteln (sagen 63 %);
  • verhaltensorientierte Ansätze in den Vordergrund stellen (56 %) – das hatten wir oben schon;
  • die Studierenden weiterhin im Umgang mit quantitativen Methoden und mathematischen Modellen ausbilden (sagen 55 %) und
  • interdisziplinärer ausgerichtet sein – und dafür den traditionellen In­strumentenbaukasten der BWL in kürzerer Zeit vermitteln (sagen 55 %).

Abb. 4: Nützliches BWL-Studium – die Top-5-Herausforderungen aus Sicht erfolgreicher Führungskräfte (Antworten in %)13

24Vieles davon ist aus unserer Sicht bereits erkannt und umgesetzt. Der immer wieder aufgestellten Forderung, die universitäre Betriebswirtschaftslehre solle mehr „praxisrelevantes“ Wissen vermitteln, können wir zumindest tendenziell eine Absage erteilen: Weniger als die Hälfte (46 %) der von uns befragten Führungskräfte ist dieser Meinung, während die Mehrheit dies nicht so sieht oder zumindest unentschieden ist. Für uns heißt das: Es geht nicht um weniger Theorie, aber schon darum, das Gelernte besser zu reflektieren und in relevante Kontexte zu setzen – genau hier ist eine stärker interdisziplinäre Ausrichtung notwendig, die die Betriebswirtschaftslehre besser mit anderen Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften wie Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaften, aber auch (Wirtschafts-)Geschichte verzahnt.

Auch bezogen auf die betriebswirtschaftliche Forschung liefert uns unsere Umfrage erste Hinweise für eine Reform(-agenda). Aus Sicht der von uns befragten Führungskräfte sollte die Forschung

  • ebenso wie die Lehre interdisziplinärer ausgerichtet werden und sich verstärkt den Fragestellungen an den Schnittstellen zwischen der Betriebswirtschaftslehre und anderen Disziplinen zuwenden;
  • sich weniger spezialisieren und sich (wieder) stärker an den Fragestellungen einer ganzheitlichen Unternehmensführung orientieren (sagen 60 %);
  • sich stärker international ausrichten (sagen 60 %), sowohl hinsichtlich einer stärkeren internationalen Vernetzung als auch bezüglich der zu behandelnden Fragestellungen;
  • sich dabei nicht (!) von quantitativen Modellen, Mathematik oder Statistik verabschieden (sagen 56 %).

Zu den Anforderungen, die seitens der Führungskräfte an die betriebswirtschaftliche Lehre und Forschung gestellt werden, gehört übrigens auch, sich dafür einzusetzen, dass ihre Ergebnisse stärker in die öffentliche Debatte eingehen (sagen 80 %). Oder mit unseren Worten: dass die Betriebswirtschaftslehre als anwendungsorientierte wissenschaftliche Disziplin in Unternehmenspraxis, Gesellschaft und Politik sichtbarer wird!

Wir kommen auf die Kommentare der Führungskräfte später noch einmal zurück und werden sie bewerten, wenn es in Kapitel 6 darum geht, welchen Beitrag die Betriebswirtschaftslehre in Zukunft leisten kann.

25Kapitel 2

Warum gute Betriebswirtschaftslehre wichtig ist: Ein Plädoyer

Wir brauchen erfolgreiche Unternehmen. Die sind ­jedoch ­keine Selbstverständlichkeit. Und hinzu kommt: ­Unternehmen zu führen wird heute immer schwieriger. Deshalb ist gute ­Betriebswirtschaftslehre wichtig!

272 Warum gute Betriebswirtschaftslehre wichtig ist: Ein ­Plädoyer

Womit beschäftigt sich die Betriebswirtschaftslehre eigentlich genau? Und vor allem: Warum ist sie wichtig? Bei anderen Disziplinen erschließt sich ihr Sinn und Zweck viel direkter: Medizinische Fakultäten sorgen für medizinischen Fortschritt und bilden Ärztinnen und Ärzte aus, die uns medizinisch versorgen – unmittelbar einleuchtend. Ingenieurinnen und Ingenieure bauen Maschinen und Geräte und sorgen für technischen Fortschritt, Naturwissenschaftler legen die Grundlagen dafür, Juristinnen kümmern sich um unseren Rechtsrahmen und helfen bei Rechtsstreitigkeiten – auch das können wir uns sofort vorstellen.

Aber Betriebswirte? Dass die Betriebswirtschaftslehre attraktiv ist und ihre Absolventen, Konzepte und Methoden für Unternehmen wichtig sind, konnten wir bereits in Kapitel 1 zeigen. Aber das reicht uns nicht. Deswegen möchten wir mit diesem zweiten Kapitel grundlegender werden und unsere These aus dem Vorwort aufgreifen: Gut geführte und gut wirtschaftende Unternehmen leisten einen wichtigen Beitrag zum Gelingen unserer Gesellschaft – und es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Unternehmen gut geführt werden. Kurz gesagt: Betriebswirtschaftslehre ist auch aus einer grundlegenden Perspektive heraus sinnvoll.

2.1 Warum wir erfolgreiche Unternehmen brauchen

Es war der britische Wissenschaftler Ronald Coase, der 1937 in seinem bahnbrechenden Aufsatz The Nature of the Firm nachwies, dass gewisse ökonomische Tauschprozesse in einem Unternehmen günstiger sind als draußen am Markt und dass es deshalb sinnvoll ist, sie in Unternehmen durchzuführen.14

Um ein einfaches Beispiel von Coase zu verwenden: Man kann entweder einen Assistenten einstellen und ihm ein Gehalt zahlen (Unternehmen) oder immer, wenn man einen Brief diktieren muss, nach einer Assistenz suchen und diese beauftragen (Markt). In beiden Fällen entstehen Kosten: Unternehmen mit ihren Hierarchien und festen Arbeitsverhältnissen betreiben einen hohen Organisationsaufwand, aber auch die Marktnutzung ist nicht kostenlos, denn man muss Preise vergleichen und Verträge aushandeln. Dabei entstehen sogenannte Transaktionskosten. Besonders 28dann, wenn man immer wieder ähnliche Transaktionen hat, sind diese im Unternehmen günstiger als am Markt. Es ist also rational, ein Unternehmen zu gründen.

Heute ist unsere moderne Gesellschaft ohne Unternehmen undenkbar. Allein in Deutschland gibt es 3,48 Mio. Unternehmen, vom Großkonzern über Mittelständler bis hin zu kleinen Handwerksbetrieben und Start-ups. Sie versorgen uns tagtäglich mit einer enormen Zahl an Waren und Dienstleistungen; allein über Amazon lassen sich aktuell 119.928.851 unterschiedliche Produkte beziehen.15

Unternehmen, und darauf kommt es uns hier an, leisten aber viel mehr, als „nur“ unsere Konsumbedürfnisse zu befriedigen. Fassen wir den Blick weiter, erfüllen sie darüber hinaus wichtige Funktionen in unserer und für unsere Gesellschaft:

  • Sie schaffen Arbeitsplätze und Einkommen: Die allermeisten von uns, nämlich 75 % aller erwerbsfähigen Deutschen, sind bei einem Unternehmen beschäftigt und erhalten dafür durchschnittlich 3.880 Euro brutto monatlich.16
  • Sie erfinden Neues: Die allermeisten Innovationen stammen aus den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen unserer Unternehmen, die allein 2018 dafür 68,9 Mrd. Euro ausgegeben haben.17

Das ist doppelt so viel wie der Staat ausgibt! Aber damit nicht genug. Noch wichtiger ist uns, dass Unternehmen eine ganz wesentliche Rolle dabei spielen, sich als Einzelner und als Gesellschaft weiterzuentwickeln:

  • Unternehmerische Innovationen verbessern unsere Lebensqualität, beispielsweise im Gesundheitswesen, hinsichtlich unserer Mobilität, beim Wohnen oder in der Energiegewinnung.
  • Erfolgreiche und innovative Unternehmen tragen maßgeblich dazu bei, steigenden Wohlstand, eine höhere Lebenserwartung und – zumindest perspektivisch – eine geringere Umweltverschmutzung zu erreichen.
  • Und nicht zuletzt: Gute Unternehmen schaffen ein Arbeitsumfeld, in dem wir uns persönlich entfalten und verwirklichen können.

Diese Aufzählung ließe sich (beliebig) verlängern, aber eines wird jetzt schon klar: Unternehmen sind wichtig! Sie sind heute so gut organisiert, dass sie nicht nur für die Kunden attraktive Produkte und Lösungen entwickeln, herstellen und vertreiben, sondern aus ihrem Produktivitätsüberschuss eben auch dazu beitragen, dass Aufgaben für die Allgemeinheit abgedeckt werden können. Dazu gehört, dass hohe Löhne und Gehälter bezahlt werden und deshalb auch ein hohes Steueraufkommen realisiert werden kann. Anders gesagt: Wir brauchen sowohl für das Gedeihen unserer Gesellschaft als auch für die Entwicklung der in dieser Gesellschaft lebenden Menschen möglichst viele starke und gut funktionierende Unternehmen.

29Aber was ist dann von dem Vorwurf zu halten, die von uns angeführten Daten und Fakten seien nur nettes Beiwerk, denn im Kern ginge es doch (nur) um kurzfristige Gewinne oder den Shareholder-Value, also darum, das Vermögen der Eigentümerinnen oder Aktionäre zu steigern. Oder das Einkommen der Managerinnen und Manager – exzessive Boni der Investmentbanker aufgrund fragwürdiger Finanzprodukte oder durch das „Dieselgate“ bei VW sind prominente Beispiele dafür.

Virulent werden diese Vorwürfe immer dann, wenn Unternehmen oder ganze Branchen in eine (auch selbstverschuldete) Krise geraten. So war es beispielsweise während der letzten Finanzkrise 2008, bei der anschließenden Bankenkrise oder auch 2019 beim amerikanischen Flugzeugbauer Boeing. Die katastrophalen Abstürze von zwei Maschinen eines neu entwickelten Flugzeugtyps, so wird spekuliert, könnten auch damit zusammenhängen, dass Entwicklungskosten gespart und die Modelle zu schnell und ohne gründliche Tests auf den Markt gebracht worden sind – zugunsten des Aktienkurses.18

Richtig ist, dass man aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf ein Unternehmen blicken kann. Aus Sicht von Gewerkschaften oder Arbeitnehmern geht es beispielsweise um vernünftig bezahlte und vor allem sichere Arbeitsplätze. Aus Sicht der Eigentümer um hohe und nachhaltig steigende Gewinne. Aus Sicht der Kunden um attraktive und günstige Produkte oder Dienstleistungen. Aus Sicht von Klimaschützern um einen möglichst guten ökologischen Fußabdruck. Und aus Sicht des Staates um möglichst hohe Steuereinnahmen.

Auch diese Aufzählung ließe sich verlängern, lässt aber bereits jetzt erahnen, wie vielen unterschiedlichen und sich gelegentlich auch widersprechenden Erwartungen Unternehmen gegenüberstehen. Und wie schwierig es ist, diese Ansprüche in der Balance zu halten.

Aus Sicht der Betriebswirtschaftslehre geht es aber zunächst nicht darum, die Interessen der diversen Stakeholder eines Unternehmens zu balancieren oder sich für eines der möglichen Ziele zu entscheiden, sondern darum, überhaupt die Grundlagen und Voraussetzungen für die Erfüllung dieser vielfältigen Erwartungen zu schaffen. Die Betriebswirtschaftslehre spricht in diesem Zusammenhang von den „Existenzbedingungen“ eines Unternehmens. Zwei dieser Existenzbedingungen müssen mindestens gegeben sein:

  • Liquidität – also die Fähigkeit, jederzeit seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Einfach gesagt: Ein Unternehmen muss immer „flüssig“ sein, um seine Rechnungen bezahlen zu können, sonst droht die Insolvenz.
  • Rentabilität – also die Fähigkeit, ertragreich (mit Gewinn) zu wirtschaften. Im Gegensatz zur Liquidität muss Rentabilität nicht jederzeit 30gegeben sein. Eine Zeit lang kann ein Unternehmen auch überleben, wenn es unrentabel wirtschaftet. Mittel- und langfristig funktioniert das jedoch nicht, denn dann kann auch die Liquiditätsbedingung nicht mehr erfüllt werden.

Wenn Betriebswirtinnen und Betriebswirte also davon sprechen, dass Unternehmen Geld verdienen müssen, dann steckt dahinter keineswegs die Ignoranz für andere Unternehmensziele, sondern die betriebswirtschaftliche Erkenntnis, dass man Gewinne machen muss, wenn Unternehmen auch die anderen angesprochenen gesellschaftlichen Beiträge leisten sollen. Zwar darf dies nicht auf ein reines Geldverdienen um jeden Preis reduziert werden, wie es der US-Ökonom Milton Friedman, Begründer der „Chicago School“, in den 1970er Jahren formulierte: „Die einzige soziale Verantwortung der Wirtschaft ist es, ihre Gewinne zu steigern.“19

Aber hinter der Forderung Friedmans steckt letzten Endes mehr. Man kann sein Postulat natürlich vereinfacht als das herzlose Hohelied des Neoliberalismus interpretieren. Differenzierter betrachtet lässt sich darin aber auch die nüchterne Erkenntnis finden, dass finanzieller Erfolg die Voraussetzung für gesellschaftliche Beiträge ist. Ganz deutlich wird dies in der Aussage von Robert Bosch, einem der erfolgreichsten deutschen Unternehmer des 19. Jahrhunderts. Früh erkannte er: „Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich viel Geld habe, sondern ich habe viel Geld, weil ich gute Löhne bezahle.“20

Die Betriebswirtschaftslehre kommt heute also nicht umhin zu diskutieren, welche Aufgaben Unternehmen erfüllen sollten. Im Kern stehen sich hier zwei Positionen gegenüber: Die einen propagieren den Shareholder-Value und argumentieren, erfolgreiche Unternehmen müssten möglichst hohe Renditen für ihre Anteilseigner (Aktionärinnen und Aktionäre) erwirtschaften, um dadurch auf den Kapitalmärkten attraktiv zu sein und neues Kapital für weiteres Wachstum zu akquirieren. Die anderen sagen, erfolgreiche Unternehmen seien solche, die den Stakeholder-Value erhöhen, also allen wichtigen Anspruchs- und Interessengruppen wie Kunden, Mitarbeitern, Lieferanten, Aktionären, Politik, Öffentlichkeit etc. gleichermaßen nützen.

Seit der Finanzkrise 2008 hat die Begeisterung für das Shareholder-Value-Prinzip stark nachgelassen. Dessen größter Verfechter, der langjährige und sehr erfolgreiche General-Electric-Chef Jack Welch, stellte 2009 sogar in einem Interview mit der Financial Times rückblickend fest: „Genau genommen ist Shareholder-Value die dümmste Idee der Welt.“21 Und weiter: „Shareholder-Value ist keine Strategie, sondern das Ergebnis einer klugen Strategie. Was wirklich zählt, um erfolgreich zu sein, sind Mitarbeiter, Produkte und Kunden.“ Womit wir wieder am Anfang unseres Abschnitts angelangt sind.

Zu den beiden klassischen Positionen Shareholder-Value und Stakeholder-Value gesellt sich in jüngster Zeit noch eine weitere: Gute Unternehmen 31sollen Sinn stiften! Zwei Drittel aller DAX-30-Unternehmen haben bereits ihren „Purpose“ definiert: Adidas will „durch Sport das Leben verändern“, BASF will „eine bessere Lebensqualität für alle“ schaffen, Siemens „der Gesellschaft dienen“.22 Auch wenn die aktuelle Purpose-Diskussion noch voll im Gange ist: Deutlich wird bereits jetzt, dass Unternehmen die Frage nach ihrer Existenzberechtigung nicht mehr allein mit hohen finanziellen Erfolgen oder steigenden Aktienkursen beantworten dürfen. Vielmehr müssen sie ihr Geschäftsmodell, also welche Ressourcen sie wie verbrauchen und was daraus an Neuem entsteht, hinterfragen und erklären.

Ob Purpose hauptsächlich Marketing nach außen oder Motivation nach innen ist oder gleichberechtigt neben die Gewinnerzielung tritt, bleibt aus unserer Sicht abzuwarten. Denn auch wenn immer mehr Unternehmen berichten, dass Berufseinsteiger aller Fachrichtungen nicht nur nach Gehalt und Arbeitsbedingungen, sondern auch nach dem Purpose des Unternehmens und dem ganz konkreten Sinn ihres eigenen Tuns fragen, muss gleichzeitig festgestellt werden, dass für nachhaltige und deshalb teurere Produkte nicht die Bereitschaft besteht, beliebig hohe Preise zu zahlen.23

Hierfür Lösungen zu finden ist nicht trivial. Klar ist deshalb jetzt: Von Unternehmen wird (heute) viel verlangt, und es ist keineswegs ausgemacht, dass sie dabei erfolgreich sind. Dazu jetzt mehr.

2.2 Erfolgreiche Unternehmen sind keine ­Selbstverständlichkeit

Ob Unternehmen nun indirekt über den Shareholder-Value oder direkt über den Stakeholder-Value oder zukünftig über ihren Purpose einen gesellschaftlichen Beitrag leisten – eines zeigen unsere Zahlen sehr deutlich: Je mehr nachhaltig erfolgreiche Unternehmen wir haben, desto besser.

Allerdings ist es keineswegs ausgemacht, dass Unternehmen erfolgreich sind. Prominente Beispiele von Unternehmenspleiten hat jeder von uns vor Augen: Air Berlin, einst die zweitgrößte deutsche Airline, geriet 2017 in die Insolvenz und stellte ihren Betrieb ein. Solarworld, ein großer deutscher Hersteller von Solarmodulen, existiert seit Ende 2018 nicht mehr. Die Baumarktkette Praktiker löste sich 2014 nach einer verfehlten Rabattpolitik auf. Die Drogeriemarktkette Schlecker musste 2012 überschuldet ihre 2.800 Filialen schließen und ihre knapp 35.000 Beschäftigten entlassen. Die Fluggesellschaft Germania, der Modekonzern Gerry Weber und das Reiseunternehmen Thomas Cook erklärten sich 2019 für zahlungsunfähig. Und mit dem Finanzdienstleister Wirecard ging 2020 erstmals sogar ein DAX-Konzern pleite. Lang ist die Liste von bekannten Unternehmen, die in den vergangenen Jahren verschwanden: Arcandor, Grundig, 32Holzmann, Kirch, Hertie, Qimonda, Quelle, Walter Bau, Neckermann, die Rickmers Reederei, Alno, Babcock Borsig und viele andere mehr.

Schon ein kurzer Blick in die vorliegenden Statistiken bestätigt, dass es sich dabei keineswegs um Ausnahmen handelt:

  • In Deutschland gingen im Durchschnitt der letzten zehn Jahre jedes Jahr gut 25.000 Unternehmen Konkurs. Und selbst 2018, in einem wirtschaftlich sehr guten Jahr, überlebten 19.302 Unternehmen nicht.24
  • In Westeuropa werden jedes Jahr mehr als 10 % aller Unternehmen insolvent. Das Durchschnittsalter aller westeuropäischen Unternehmen liegt bei gerade einmal 12,3 Jahren. Anders formuliert: Die meisten Unternehmen werden nicht besonders alt.25
  • In den USA ist das Bild nicht anders: Von den 100 wichtigsten amerikanischen Unternehmen, die 1917 die erste „Forbes 100“-Liste ausmachten, gab es hundert Jahre später 88 nicht mehr. Und gerade einmal drei der verbliebenen zwölf Unternehmen – AT&T, General Electric und Ford – existieren heute noch unter ihrem ursprünglichen Namen.26

Dass ständige Veränderung in der Wirtschaft nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, zeigt auch eine Analyse der Unternehmen, die zwar überlebt, aber ihre führende Position eingebüßt haben. Neun von zehn Unternehmen können sich nicht langfristig an der Spitze halten, wie sich gut an Aktienindizes ablesen lässt:

  • Von den 500 Unternehmen, die 1957 den „Standard & Poor’s 500“-Index (S&P 500) definiert haben, sind heute nur noch 63 gelistet – anders ausgedrückt: 87 % haben es nicht geschafft, in diesem Index zu bleiben.27
  • Konnte ein Unternehmen 1957, statistisch gesehen, damit rechnen, für 61 Jahre im S&P 500 zu bleiben, so sind es heute nur noch zwölf Jahre.28
  • Für die deutschen Börsenindizes ergibt sich das gleiche Bild: Nur zwölf der DAX-30-Unternehmen der ersten Stunde (1988) sind heute noch im Index, nur fünf der 60 MDAX-Unternehmen und nur sechs der ­ursprünglich 100 SDAX-Unternehmen.

Insgesamt haben es also auch hierzulande 86 % der Unternehmen nicht geschafft, ihre Position zu halten, und das, obwohl die deutschen Indizes nicht einmal halb so alt sind wie der amerikanische. Und mehr noch: Wie das Analyseunternehmen Innosight ermittelt hat, wird die Veränderungsgeschwindigkeit weiter zunehmen, denn 50 % aller Unternehmen werden den Forschern zufolge in den kommenden zehn Jahren aus dem S&P 500 ausscheiden und durch jüngere, aufstrebende Firmen ersetzt werden.29

Angesichts dieser Zahlen ist es kaum verwunderlich, dass sich die Betriebswirtschaftslehre schon immer mit der Frage beschäftigt hat, warum Unternehmen scheitern. Die Erklärungsmuster sind vielfältig und hängen auch davon ab, in welcher Zeit sie entstanden sind. Aus unserer Sicht lassen sich drei wesentliche Gründe für das Scheitern von Unternehmen festmachen:30

33Erstens: Wandel. Unternehmen (können) scheitern, weil sich ihr Markt und ihr Umfeld verändern, weil ihre Produkte nicht mehr passen oder ihre Kernkompetenzen obsolet geworden sind. Bestes Beispiel ist die Digitalisierung, die derzeit ganze Branchen revolutioniert und etablierte Geschäftsmodelle hinwegfegt. Doch nicht nur die Digitalisierung führt zu Wandel: Neue Regulierungen verändern den Markt, neue Technologien verändern Produktionsprozesse (z. B. der 3D-Druck), wichtige Rohstoffe werden teuer.

Zweitens: Fehlende Größe. Unternehmen (können) scheitern, weil sie zu langsam wachsen oder nicht schnell genug eine kritische Größe erreichen. Neu gegründete Unternehmen müssen zu Beginn schnell wachsen, um sich ihre Position im Markt zu erarbeiten. Aber auch bei etablierten Unternehmen kann man beobachten, dass Größe das Überleben wahrscheinlicher macht. Die Betriebswirtschaftslehre begründet das mit sogenannten Größenvorteilen oder Skaleneffekten: Wer größer ist (als seine Wettbewerber), kann in aller Regel günstiger produzieren, günstiger bei Zulieferern einkaufen oder sich günstiger Geld bei Banken leihen.

Besonders plakativ sieht man die Konsequenz von Skaleneffekten heute bei den Plattformunternehmen der digitalen Wirtschaft wie Facebook, Google oder Amazon: Sind soziale Netzwerke, Suchmaschinen oder Online-Marktplätze einmal unter Inkaufnahme hoher Investitionen aufgebaut und haben eine hinreichend große Anzahl von Nutzern angezogen, betragen die zusätzlichen Kosten für die bereitgestellten Leistungen (in der Betriebswirtschaftslehre spricht man von Grenzkosten) nahezu nur noch null, anders als zum Beispiel bei Automobilunternehmen, in denen auch nach dem erfolgreichen Aufbau von Produktionsanlagen und Vertriebsinfrastruktur immer noch für jedes zusätzlich hergestellte Fahrzeug hohe Zusatzkosten anfallen.

Drittens: Unfähigkeit. Unternehmen können auch an sich selbst scheitern, weil sie die falschen Strategien verfolgen, weil ihre Führungskräfte zu arrogant sind oder nicht klug genug agieren oder weil die falschen Leute zum falschen Zeitpunkt an Bord sind. Die Betriebswirtschaftslehre hat eine Fülle von Studien hervorgebracht, die typische Denkfehler bei Investitionsentscheidungen offenlegen und beispielsweise zeigen, dass bei Projekten häufig schlechtem Geld gutes Geld hinterhergeworfen wird, also begonnene Projekte selbst dann fortgeführt werden, wenn die Zukunftsaussichten schlecht sind.

Es ist also häufig nicht der Wandel an sich, der zum Scheitern führt, sondern die Unfähigkeit, ihn rechtzeitig zu erkennen und kraftvoll darauf zu reagieren. Damit ist auch die Stoßrichtung klar: Um das Scheitern eines Unternehmens zu verhindern, geht es darum, den Wandel – oder besser: Veränderungen – rechtzeitig zu erkennen, die Konsequenzen klug zu analysieren und kompetent, mutig und schnell darauf zu reagieren.

34Dass die Betriebswirtschaftslehre dabei hilft, konnten wir oben bereits zeigen: Erfolgreiche Führungskräfte, also diejenigen, die jeden Tag aufs Neue damit befasst sind, ein Scheitern zu verhindern, bescheinigen der Betriebswirtschaftslehre ausdrücklich, „dass sie zum unternehmerischen Erfolg beiträgt“ – durch kluge Strategiekonzepte („Wandel rechtzeitig erkennen“), durch moderne Planungsmethoden („konsequent reagieren“), durch neue Kosten- und Investitionsrechnungsverfahren, die helfen, Fehlinvestitionen zu vermeiden, sowie durch neue Führungskonzepte („mutig und schnell entscheiden“).

2.3 Unternehmen zu führen wird immer schwieriger

Allerdings ist es damit noch nicht getan, denn aus unserer Sicht steigen die Anforderungen an eine erfolgreiche Unternehmensführung weiter an. Anders gesagt: Scheitern wird immer wahrscheinlicher! Verantwortlich dafür sind unseres Erachtens vor allem sechs Herausforderungen – und ein darüber liegendes Phänomen:

Erstens: Technologische Sprünge. Dass neue digitale Prozesse und Lösungen Unternehmen verändern und herausfordern, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Immer wieder aufs Neue atemberaubend ist aber, mit welcher Geschwindigkeit und in welcher Tiefe die Digitalisierung und andere neue Technologien, beispielsweise in der Gentechnik oder durch neue Materialien, unser Wirtschaftsleben revolutionieren: in der Produktion (3D-Druck, digitale Twins, Verschmelzung von Mensch und Maschine), in Logistik und Transport (digitale Warenlager, autonomes Fahren, intelligente Verkehrssteuerung), im Marketing (Search Engine Optimization, digitale Kampagnen, Customer Journey), im Umgang mit Daten (Big Data, künstliche Intelligenz). Dass neue digitale Ideen und neue Technologien in disruptiver Weise und mit ungeahnter Geschwindigkeit bestehende Geschäftsmodelle zerstören, ist heute keine Science-Fiction mehr, sondern harte alltägliche Realität.

Hinzu kommt, dass die Digitalisierung auch die Arbeitswelt selbst massiv verändert – in den Unternehmen, aber auch bezogen auf die Frage, wie viel menschliche Arbeitskraft und welche Kompetenzen in Zukunft überhaupt noch benötigt werden.

35

Abb. 5: Steigende Anforderungen an erfolgreiche Unternehmensführung – sechs Herausforderungen und ein Phänomen

Zweitens: Auflösung von Branchengrenzen. War es vor nicht allzu langer Zeit noch so, dass Autobauer Pkw (oder Lkw) bauten, Energieversorger Strom produzierten und verteilten und Verlage Zeitungen oder Bücher verkauften, brechen diese ehemals klaren Geschäftsabgrenzungen heute auf – vor allem auch als Folge der Digitalisierung: Autobauer werden zu Mobilitätsanbietern, IT-Konzerne entwickeln autonom fahrende Fahrzeuge, Amazon kauft Flugzeuge und Schiffe, Facebook und Apple entwickeln Finanzdienstleistungen. Mit der Folge, dass heute keineswegs klar ist, wer in Zukunft ein Wettbewerber sein wird und aus welcher Richtung er kommt.

Einer aktuellen Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC zufolge nimmt diese „Branchenverwischung“ auch in Deutschland dynamisch zu: Für 2017 konnten die Beraterinnen und Berater schon 536 branchenübergreifende Aktivitäten messen, viermal so viele wie 2012.31 Übrigens sind es nicht nur die Branchengrenzen, die verwischen. Auch die Unternehmensgrenzen werden zunehmend unklar: Wenn Digitalisierung und der Einsatz neuer Technologien dazu führen, dass es immer mehr Kooperationen, Joint Ventures oder Allianzen gibt, kann nicht mehr so klar wie früher abgegrenzt werden, was ein Unternehmen ist und wo seine Kernkompetenzen liegen.

Drittens: Geopolitische Verwerfungen. Es ist nicht nur der Brexit oder der Handelskonflikt zwischen den USA und China, der globale Unternehmensstrategien urplötzlich infrage stellt. Die Liste schwer einschätzbarer geopolitischer Risiken lässt sich nahezu endlos fortsetzen: die Abwendung der Türkei vom Westen, die Ausweitung der russischen Einflusszone, die Konflikte im Mittleren Osten, die Iran-Krise, die Bedrohung durch Nordkorea, die Erweiterung der chinesischen Einflusssphäre, nicht zuletzt durch das Projekt einer neuen Seidenstraße.32

Hinzu kommt, dass in vielen (auch europäischen) Ländern nationalistische und populistische Strömungen das multilaterale politische und wirtschaftliche Ordnungsgeflecht zunehmend infrage stellen – mit nur schwer einschätzbaren Folgen für die ökonomische Globalisierung.

36Viertens: Industriepolitische Regulierungen. Dass die Politik regulatorische Rahmenbedingungen setzt, ist nicht neu. Neu ist aber, dass es zunehmend Tendenzen gibt, diese Regulierungen durch industriepolitische Maßnahmen zu ergänzen, etwa durch staatliche Eingriffsmöglichkeiten bei ausländischen Firmenübernahmen, die Erleichterung von Zusammenschlüssen europäischer Unternehmen, die Förderung bestimmter industrieller Innovationen – zum Beispiel in der Elektromobilität – sowie die weitere Einflussnahme auf Energiepreise.

Wie weit diese „neue“ Regulatorik gehen wird, ist noch nicht abzusehen. Das von Wirtschaftsminister Peter Altmaier Anfang 2019 vorgelegte Papier, die „Nationale Industriestrategie 2030“, ist sehr kontrovers diskutiert worden. Aber klar scheint, dass regulatorische und industriepolitische Eingriffe von Seiten des Staates bei der Entwicklung von Unternehmensstrategien zukünftig wieder eine stärkere Rolle spielen werden.

Fünftens: Wertewandel. Kunden, Mitarbeiterinnen und viele Investoren erwarten von Unternehmen heute stärker als je zuvor ein ökologisch vorbildliches Verhalten, das Grundsätze ökologischer Nachhaltigkeit berücksichtigt. Wir können davon ausgehen, dass nicht zuletzt die „Fridays for Future“-Bewegung eine neue ökologische Debatte um die Verträglichkeit von Wachstum und Nachhaltigkeit in Gang gesetzt hat. Es geht um nachhaltige Produktion, mehr Regionalität und vor allem weniger CO2-Ausstoß – alles Themen, die die Funktionsweise von Unternehmen ganz erheblich beeinflussen werden.

Hinsichtlich des individuellen Arbeitslebens ist ein weiterer Wertewandel zu beobachten, der die Führung von Unternehmen verändern wird: Es geht um eine neue Work-Life-Balance, um mehr Freiheit und Selbstverwirklichung, um Flexibilität, um neue Arbeitszeitmodelle und neue Formen der Zusammenarbeit. Und nicht zuletzt auch darum, eine Atmosphäre zu schaffen, mit der es auch traditionellen Unternehmen gelingt, dringend benötigte digitale IT-Talente zu gewinnen.

Sechstens: Aktivistische Investoren. War es früher üblich, dass Aktionärinnen und Aktionäre die Entwicklung der Unternehmensstrategie weitestgehend dem Management überlassen haben, beobachten wir gegenwärtig vermehrt sogenannte aktivistische Investoren, die sich gezielt an Unternehmen beteiligen, von denen sie glauben, dass eine neue Strategie, ein bewusster Bruch mit Unternehmenstraditionen, die Abspaltung von Geschäftsbereichen oder auch ein Wechsel in der Führung zu Wertsteigerungen führen wird, und die versuchen, durch öffentliche Kampagnen und mehr oder weniger aggressives Vorgehen genau das zu erreichen.

Allein zwischen 2016 und 2018 gab es in Deutschland 26 solcher Kampagnen (160 % mehr als in den drei Jahren davor).33 ThyssenKrupp, Stada, Bilfinger oder auch die Commerzbank sind nur einige prominente Beispiele 37dafür. Ein solches Vorgehen muss nicht immer schlecht sein, aber es kann zu erheblicher Unruhe in den Unternehmen führen, wie die Beispiele zeigen.

Diese sechs von uns genannten Herausforderungen sind nicht abschließend oder vollständig. Genauso gut kann beispielsweise der zunehmende Migrationsdruck oder der demografische Wandel und die damit verbundene Überalterung der (westlichen) Gesellschaft hinzugenommen werden, die dringende Fragen nach „guter Arbeit“ für die Ü-60-Generation stellen wie auch nach entsprechenden Produkten und Dienstleistungen. Oder auch die Geschwindigkeit, mit der heute Entscheidungen getroffen werden müssen, denn Disruption und schnelle technologische Sprünge lassen Zeit zum kritischen Engpassfaktor werden. Kurzum: Die Anforderungen an Unternehmensführung steigen unseres Erachtens erheblich – und damit auch die Anforderungen an die Betriebswirtschaftslehre, entsprechende Konzepte und Lösungen zu entwickeln. Denn viele betriebswirtschaftliche Theorien und Instrumente stammen aus einer Zeit, in der vor allem die Fertigung von Sachgütern im Vordergrund stand. Auch wenn die Betriebswirtschaftslehre auf die vorgelagerten Phänomene wie die Dienstleistungs- und dann die Wissensgesellschaft reagiert hat, müssen wir heute vor allem durch die Digitalisierung noch einen Schritt weitergehen. Stichworte wie „Plattform- und Echtzeitökonomie“ oder „Null-Grenzkosten“ prägen die Diskussion und führen dazu, dass auch traditionelle Verfahren in Kostenrechnung, Produktion oder Logistik neu durchdacht werden müssen.

Hinzu kommt ein mit den genannten Herausforderungen verbundenes und ihnen zum Teil zugrunde liegendes Phänomen, das Unternehmensführung in ganz besonderer Weise fordert: zunehmende Ungewissheit!34

Natürlich gehörte es schon immer zu den Kernaufgaben für Managerinnen und Manager, Annahmen über künftige Entwicklungen zu treffen. Auf dieser Basis konnten sie dann planen und entscheiden, ob es sich beispielsweise lohnt, ein neues Produkt zu entwickeln, einen neuen Markt zu erschließen, ein anderes Unternehmen zu kaufen oder eine Kooperation einzugehen. Doch heute wird es immer schwieriger, verlässliche Annahmen über die Zukunft zu treffen. Das lässt sich für die beiden genannten Herausforderungen der geopolitischen Konflikte und der Auflösung von Branchengrenzen exemplarisch durchspielen: Gibt China dem Trumpschen Druck nach und öffnet seine Märkte? Oder gerade nicht? Und wenn ja, auf welchen Feldern – und was bedeutet das für deutsche Unternehmen? Ist es noch sinnvoll, in Mexiko Autos zu produzieren oder an ein Geschäft mit dem Iran zu glauben? Kommt der Brexit nun hart oder weich – oder ganz anders oder gar nicht? Wird Amazon tatsächlich auch zu einer Spedition – oder dient der Kauf von Schiffen oder Flugzeugen nur dazu, Verhandlungsdruck auf die logistischen Dienstleister auszuüben?

38Schwer zu sagen! Denn ökonomische, politische und soziale Zusammenhänge sind heute alles andere als eindeutig, Bedrohungen längst nicht immer gleich als solche erkennbar, Freund und Feind nicht immer klar zu unterscheiden. Dass die von uns genannten Herausforderungen und Phänomene kein intellektuelles Konstrukt sind, sondern auch die unternehmerische Praxis zutiefst bewegen, zeigt eine Umfrage unter deutschen Topmanagerinnen und -managern, die einer unserer Autoren für einen Ende 2018 im manager magazin erschienenen Essay durchgeführt hat:35 96 % der Befragten konstatieren, dass die Digitalisierung völlig neue und überraschende Geschäftsmodelle hervorbringt. Dass Branchengrenzen erodieren und ganz neue, unerwartete Wettbewerbskonstellationen entstehen, beobachten 85 % der Befragten. Und 77 % sehen, dass die Geopolitik erfolgreiche Globalisierungsstrategien urplötzlich infrage stellen kann. Kurz: Dass Ungewissheit heute das bestimmende Element ihrer Arbeit ist, stellen 75 % der befragten Top-Führungskräfte fest.

Methodisch betrachtet stellt uns diese Ungewissheit vor eine ganz neue Herausforderung. Denn anders als bei den bekannten Entscheidungen unter Risiko (wir können die Wahrscheinlichkeiten möglicher zukünftiger Ereignisse vergleichsweise gut einschätzen) oder Unsicherheit (wir kennen zumindest noch die möglichen Ereignisse) kennen wir bei Ungewissheit weder die möglichen zukünftigen Ereignisse noch deren Wahrscheinlichkeit. John Maynard Keynes spricht in diesem Zusammenhang von „radikaler Ungewissheit“: „Our existing knowledge does not provide us a sufficient base for a calculated expectation.“36

Hohe Ungewissheit führt zu einer ernüchternden Erkenntnis: Wir sind mit einer neuen Form von Unplanbarkeit konfrontiert. Mit der Konsequenz, dass wir die traditionellen betriebswirtschaftlichen Instrumente nicht mehr ohne Weiteres anwenden können. Nur einige Beispiele:

  • Wenn wir – wie beispielsweise bei Investitionen in neue digitale Geschäftsmodelle – kaum abschätzen können, ob und wie sie sich überhaupt durchsetzen, dann lassen sich die Standardverfahren der Investitionsrechnung nicht mehr ohne Weiteres anwenden.
  • Wenn ungewiss ist, wie schnell ein Markt und damit auch die produzierten Stückzahlen wachsen, dann lässt sich die langfristige Entwicklung der Produktionskosten, die bei steigender Produktionsmenge aufgrund von Lern- und Erfahrungseffekten systematisch sinken, kaum abschätzen. Das bewährte Instrument der Erfahrungskurve, das hierfür eine quantitative Grundlage bietet, kann keine validen Ergebnisse mehr für Kostenschätzungen oder Preispolitik liefern.
  • Wenn wir weder Investitionen noch Märkte vernünftig einschätzen können, führen uns auch die bekannten strategischen Portfolioansätze nicht zwangsläufig zu guten Strategien – vor allem, wenn wir bei sich immer schneller verändernden Märkten und sich auflösenden 39Branchengrenzen nicht einmal mehr sicher sein können, wer unsere Wettbewerber sein werden. Denn dann ist es gar nicht mehr so einfach, eine Wettbewerbsanalyse durchzuführen.

Das heißt zwar nicht, dass die exemplarisch genannten betriebswirtschaftlichen Konzepte völlig obsolet sind. Aber wir müssen uns unter den neuartigen Bedingungen einer radikalen Ungewissheit ihrer Grenzen viel mehr als bisher bewusst sein. Es reicht nicht mehr, traditionelle betriebswirtschaftliche Modelle und Konzepte anwenden zu lernen – das, was manchmal abschätzig als „Wöhe-BWL“ beschrieben wird. Man muss sie vielmehr verstehen und ihre Annahmen und die dahinter liegenden Theorien kennen. Man muss in der Lage sein, Zusammenhänge zu begreifen, zu reflektieren, denkbare Zukünfte zu entwerfen, Beziehungen abzuleiten, den Bezug zu anderen Wissensgebieten herzustellen, interdisziplinär vorzugehen. Kurz gesagt: Statt anzuwenden geht es darum, denken zu lernen. Also genau das zu tun, wofür die universitäre Betriebswirtschaftslehre steht.

Details

Seiten
167
ISBN (PDF)
9783800665235
ISBN (ePUB)
9783800665242
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Anerkennung Arbeitspsychologie New Work Organisationspsychologie Unternehmensstruktur

Autoren

  • Burkhardt Schwenker (Autor:in)

  • Sönke Albers (Autor:in)

  • Wolfgang Ballwieser (Autor:in)

  • Tobias Raffel (Autor:in)

  • Barbara E. Weißenberger (Autor:in)

Zurück

Titel: Erfolgsfaktor Betriebswirtschaftslehre
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
169 Seiten