Reinventing Organizations
Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit
Zusammenfassung
Dies ist ein sehr wichtiges Buch, bedeutsam in vielerlei Hinsicht: Sowohl angesichts der bahnbrechenden Forschungsergebnisse, Einsichten, Ratschläge und Empfehlungen, die es enthält, als auch aufgrund der genauso wichtigen Fragen und Herausforderungen, auf die es hinweist.“
Ken Wilber aus dem Nachwort
„Die programmatische Aufforderung ‚Reinventing Organizations‘ mündet in einem Organisationsmodell, das Strukturen wie Praktiken nach neuartigen, evolutionär-integralen Prinzipien ausrichtet. Im Ergebnis steht die Erkenntnis, dass das Leben und Arbeiten in Organisationen, ebenso wie deren Leistungsbeiträge für die Gesellschaft, radikal zum Positiven verändert werden können. Aber hierzu muss nicht zuletzt die Führung eine fortgeschrittene Entwicklungsebene erreichen.“
Prof. Dr. Jürgen Weibler, Autor des Standardwerkes „Personalführung“
„Das Buch gibt Hoffnung und ganz konkrete Hilfe zur Lösung der Probleme, die
wir an der Schwelle von der Postmoderne zu einem neuen Zeitalter erleben, in denen die traditionellen oder modernen Organisationsformen den Anforderungen und Bedürfnissen der Menschen nicht mehr gerecht werden.“
Eine Leserin auf Amazon.com
Frederic Laloux hat mit Reinventing Organizations das Grundlagenbuch für die integrale Organisationsentwicklung verfasst. Die Breite sowie Tiefe seiner Analyse und Beschreibung – ganzheitlich, selbstorganisierend und sinnerfüllend operierender Unternehmen – ist einzigartig.
Das erste Kapitel des Buches gibt einen Überblick über die historische Entwicklung von Organisationsparadigmen, bevor im zweiten Kapitel Strukturen, die Praxis und die Kultur von Organisationen, die ein erfüllendes und selbstbestimmtes Handeln der Menschen ermöglichen, anhand von ausgewählten Beispielen vorgestellt werden. Auf die Bedingungen, Hindernisse sowie Herausforderungen bei der Entwicklung dieser evolutionären Organisationen wird in Kapitel 3 eingegangen. Hier entwirft Frederic Laloux einen Leitfaden für den Weg hin zu einer ganzheitlich orientierten und sinnstiftenden Organisation.
Frederic Laloux ist auch aufgrund dieses Buches ein mittlerweile gefragter Berater und Coach für Führungskräfte, die nach fundamental neuen Wegen der Organisation eines Unternehmens suchen. Er war Associate Partner bei McKinsey & Company und hält einen MBA vom INSEAD.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Zum Inhalt
Dies ist ein sehr wichtiges Buch, bedeutsam in vielerlei Hinsicht: Sowohl ange-sichts der bahnbrechenden Forschungsergebnisse, Einsichten, Ratschläge und Empfehlungen, die es enthält, als auch aufgrund der genauso wichtigen Fragen und Herausforderungen, auf die es hinweist.“
Ken Wilber aus dem Nachwort
„Die programmatische Aufforderung ‚Reinventing Organizations‘ mündet in einem Organisationsmodell, das Strukturen wie Praktiken nach neuartigen, evolutionär-integralen Prinzipien ausrichtet. Im Ergebnis steht die Erkenntnis, dass das Leben und Arbeiten in Organisationen, ebenso wie deren Leistungs-beiträge für die Gesellschaft, radikal zum Positiven verändert werden können. Aber hierzu muss nicht zuletzt die Führung eine fortgeschrittene Entwick-lungsebene erreichen.“
Prof. Dr. Jürgen Weibler, Autor des Standardwerkes „Personalführung“
„Das Buch gibt Hoffnung und ganz konkrete Hilfe zur Lösung der Probleme, die wir an der Schwelle von der Postmoderne zu einem neuen Zeitalter erleben, in denen die traditionellen oder modernen Organisationsformen den Anforde-rungen und Bedürfnissen der Menschen nicht mehr gerecht werden.“
Eine Leserin auf Amazon.com
Frederic Laloux hat mit Reinventing Organizations das Grundlagenbuch für die integrale Organisationsentwicklung verfasst. Die Breite sowie Tiefe seiner Analyse und Beschreibung – ganzheitlich, selbstorganisierend und sinner-füllend operierender Unternehmen – ist einzigartig.
Das erste Kapitel des Buches gibt einen Überblick über die historische Entwick-lung von Organisationsparadigmen, bevor im zweiten Kapitel Strukturen, die Praxis und die Kultur von Organisationen, die ein erfüllendes und selbstbe-stimmtes Handeln der Menschen ermöglichen, anhand von ausgewählten Bei-spielen vorgestellt werden. Auf die Bedingungen, Hindernisse sowie Heraus-forderungen bei der Entwicklung dieser evolutionären Organisationen wird in Kapitel 3 eingegangen. Hier entwirft Frederic Laloux einen Leitfaden für den Weg hin zu einer ganzheitlich orientierten und sinnstiftenden Organisation.
Zum Autor
Frederic Laloux ist auch aufgrund seines Buches ein mittlerweile gefragter Berater und Coach für Führungskräfte, die nach fundamental neuen Wegen der Organisation eines Unternehmens suchen. Er war Associate Partner bei McKinsey & Company und hält einen MBA vom INSEAD.
Reinventing Organisations
Ein Leitfaden zur Gestaltung
sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit
von
Frederic Laloux
Aus dem Englischen übersetzt
von Mike Kauschke
Verlag Franz Vahlen München
VInhaltsverzeichnis
Einführung: Die Entstehung eines neuen Organisationsmodells
Die Grenzen unseres gegenwärtigen Organisationsmodells
Die Fragen, durch die die Recherche für dieses Buch ausgelöst wurde
Organisationen im Laufe der Evolution (Kapitel 1 des Buches)
Empirische Forschung – was uns die Pioniere lehren können (Kapitel 2 des Buches)
Notwendige Bedingungen (Kapitel 3 des Buches)
1 Eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive
1.1 Paradigmenwechsel: Organisationsmodelle in Vergangenheit und Gegenwart
Das reaktive Paradigma (Infrarot)
Das magische Paradigma (Magenta)
Das tribale impulsive Paradigma (Rot)
Das traditionelle konformistische Paradigma (Bernstein)
Das moderne leistungsorientierte Paradigma (Orange)
Das postmoderne pluralistische Paradigma (Grün)
Von tribal zu postmodern: Die Koexistenz von Organisationsmodellen
1.2 Über die Stufen der Entwicklung
Die Komplexität der menschlichen Evolution
Die Anwendung der Stufenentwicklung in Organisationen
Der Zug der Führung – nach unten und oben
1.3 Das integrale evolutionäre Paradigma (Petrol)
Die Ängste des Egos in den Griff bekommen
Innere Stimmigkeit als Kompass
Das Leben als Reise der Entfaltung
Angemessener Umgang mit Widrigkeiten
Weisheit jenseits von Rationalität
Ganzheit in der Beziehung zu anderen
Ganzheit in der Verbundenheit mit dem Leben und der Natur
Was das für evolutionäre Organisationen bedeuten könnte
2 Die Strukturen, Praktiken und Kulturen evolutionärer Organisationen
2.1 Drei Durchbrüche und eine Metapher
Eine neue Metapher: Organisationen als lebendige Systeme
Die drei Durchbrüche von evolutionären Organisationen
Die Organisationen, die in der Recherche untersucht wurden
2.2 Selbstführung (Strukturen)
Ein Fallbeispiel: von modern zu integral
Stark reduzierte Unterstützungsfunktionen
Kein Vorstand, wenig Besprechungen
Koordination und Wissensaustausch zwischen den Teams
Die Skalierung für zehntausende Mitarbeiter
Kein Organigramm, keine Stellenbeschreibung, keine Stellenbezeichnung
Selbstführende Schüler, Lehrer und Eltern – eine evolutionäre Schule
Entscheidungsfindung – der Beratungsprozess
Entscheidungsfindung in Zeiten der Krise
Die Definition und Verteilung der Rollen
Leistungsmanagement auf der Teamebene
Individuelles Leistungsmanagement
Zusammenfassung – die Strukturen, Prozesse und Praktiken der Selbstführung
2.4 Die Suche nach Ganzheit (Allgemeine Praktiken)
Mit unserem Menschsein arbeiten
Sichere und offene Arbeitsumgebungen
Ökologisches und soziales Engagement
2.5 Die Suche nach Ganzheit (Personalprozesse)
Stellenbeschreibungen, Stellenbezeichnungen und Karriereplanung
Verpflichtungen, Arbeitsstunden und Flexibilität
Feedback und Leistungsmanagement
Zusammenfassung – Praktiken und Prozesse, die die Ganzheit unterstützen
2.6 Auf den evolutionären Sinn hören
Konkurrenz, Marktanteile und Wachstum
Entscheidungsfindung durch das Hören auf den evolutionären Sinn
Praktiken, um auf den evolutionären Sinn zu hören
Strategie als organischer Prozess
Planung, Budgetierung und Controlling
Kunden, Zulieferer und Informationsfluss
Sinnvolles Stimmungsmanagement
Der individuelle Sinn und der Sinn der Organisation
Zusammenfassung – auf den evolutionären Sinn hören
2.7 Weitverbreitete kulturelle Eigenschaften
Wie Kultur, Systeme und Weltsichten miteinander interagieren: die vier Quadranten
3 Die Emergenz evolutionärer Organisationen
Vorbildfunktion für die drei Durchbrüche evolutionärer Organisationen
Und ansonsten: Ein Kollege wie jeder andere
Notwendig, aber nicht ausreichend
3.2 Die Gründung einer evolutionären Organisation
Übergreifende Annahmen und Werte
Drei Praktiken zur Selbstführung
Zwei Praktiken zum evolutionären Sinn
3.3 Die Veränderung einer schon bestehenden Organisation
Die Implementierung von Selbstführung
Die Einführung von Praktiken der Ganzheit
Die Einführung von Praktiken des evolutionären Sinns
Treiber außergewöhnlicher Leistung
3.5 Evolutionäre Organisationen und eine evolutionäre Gesellschaft
Wie könnte eine integrale evolutionäre Gesellschaft aussehen?
Evolutionäre Organisationen in einer integralen evolutionären Gesellschaft
Anhang 2: Jenseits der integralen evolutionären Perspektive
Anhang 3: Die Strukturen evolutionärer Organisationen
Anhang 4: Überblick über die Strukturen, Praktiken und Prozesse evolutionärer Organisationen
1Einführung: Die Entstehung eines neuen Organisationsmodells
Wir verändern die Dinge nicht, indem wir gegen die bestehende Wirklichkeit kämpfen. Um etwas zu verändern, müssen wir ein neues Modell entwickeln, dass das alte Modell überflüssig macht.
Richard Buckminster Fuller
Aristoteles, der große griechische Philosoph und Wissenschaftler behauptete in einem Text, den er im Jahre 350 v. Chr. schrieb, dass Frauen weniger Zähne hätten als Männer.[1] Heute wissen wir, dass das Unsinn ist. Aber fast 2000 Jahre lang war es anerkanntes Wissen in der westlichen Welt. Dann kam eines Tages jemand auf eine Idee: Lasst uns nachzählen!
Die wissenschaftliche Methode – das Formulieren einer Hypothese und ihre Überprüfung mittels Experiment – ist so tief in unserem Denken eingeprägt, dass es für uns schwer verständlich ist, dass intelligente Menschen blind einer Autorität vertrauen und die Annahmen nicht überprüfen. Natürlich könnten wir auch denken, dass die Leute damals einfach noch nicht klug genug waren. Aber bevor wir sie zu streng beurteilen, sollten wir uns vielleicht selbst fragen: Könnten sich zukünftige Generation genauso über uns wundern? Könnten auch wir Gefangene einer vereinfachenden Sichtweise der Welt sein?
Es gibt Gründe für diesen Verdacht. Als ein Beispiel möchte ich Ihnen eine einfache Frage stellen: Wie viele Gehirne hat der Mensch? Wahrscheinlich ist ihre Antwort „eines“ (oder, wenn Sie eine Fangfrage erwarten, könnten Sie „zwei“ antworten, und damit die oft erwähnten rechten und linken Gehirnhälften meinen). Aber unser heutiges Wissen geht davon aus, dass wir drei Gehirne haben: Das große Gehirn in unserem Kopf; darüber hinaus gibt es aber noch ein kleines Gehirn im Herzen und ein weiteres im Bauch. Die letzten beiden sind vergleichsweise klein,[2] aber es sind trotzdem vollkommen autonome Nervensysteme.
Und hier wird es interessant: Das Gehirn im Herzen und das Gehirn im Bauch wurden erst vor Kurzem entdeckt, obwohl die technologischen Voraussetzungen für diese Entdeckung schon seit langer Zeit existierten. Alles, was man dafür braucht, ist eine Leiche, ein Messer und ein einfaches Mikroskop. In der Tat wurde das Gehirn im Bauch schon vor lange Zeit entdeckt, und zwar in den 1860er Jahren von einem deutschen Arzt namens Auerbach. Seine Entdeckung wurde von zwei englischen Kollegen, Bayliss und Starling, noch weiter verfeinert. Und dann geschah etwas Außergewöhnliches: Das Gehirn im Bauch geriet in der Medizin irgendwie in Vergessenheit. Ein Jahrhundert lang wurde es vollkommen aus dem Blick verloren! Erst in den späten 1990er Jahren wurde es von dem amerikanischen Neurowissenschaftler Michael Gerson und anderen wiederentdeckt.
2Wie konnten die Mediziner die Existenz eines Gehirns vergessen? Meiner Ansicht nach hat es mit dem Glaubenssystem unserer Zeit zu tun: In einer hierarchischen Weltsicht kann es nur ein Gehirn geben, dass die Kontrolle hat, so wie es nur einen einzigen Chef an der Spitze jeder Organisation geben kann. Obwohl es in der Umgangssprache Ausdrücke wie „mein Herz sagt mir“ oder „mein Bauchgefühl sagt mir“ gab, kann es nicht möglich sein, dass es drei autonome Gehirne gibt, die nebeneinander arbeiten, wenn wir glauben, dass die Welt klare Hierarchien braucht, um zu funktionieren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir die beiden anderen Gehirne zum gleichen Zeitpunkt entdeckten (oder wiederentdeckten), als das Internet zu einem bestimmenden Element unseres Lebens wurde. Das Internetzeitalter hat eine neue Weltsicht vorweggenommen, in der die Möglichkeit verteilter Intelligenz vorstellbar wird, die die bisherigen Top-Down-Hierarchien ersetzt. In dieser Weltsicht ist Raum für die Idee, dass wir mehr als ein Gehirn besitzen und dass diese verschiedenen Gehirne in gemeinsamer Intelligenz zusammenarbeiten können.
Wir können nur schwer nachvollziehen, dass die Menschen im Mittelalter der Behauptung des Aristoteles Glauben schenken konnten, nach der Frauen weniger Zähne hätten als Männer. Aber es scheint, dass auch wir in gleicher Weise Gefangene unseres Denkens sein können. Moderne Wissenschaftler weigerten sich, genau durch das Mikroskop zu schauen, „weil es nur ein Gehirn geben kann“, so wie die Zeitgenossen Galileis sich weigerten, durch sein Teleskop zu schauen, weil es undenkbar war, dass unser gottgeschaffener Planet irgendetwas anderes als das Zentrum des Universums sein könnte.
Die Grenzen unseres gegenwärtigen Organisationsmodells
Mein Interesse gilt nicht der Medizin oder Astronomie, sondern Organisationen und Zusammenarbeit. Aber die konzeptuelle Frage bleibt die gleiche: Könnte es sein, dass unsere gegenwärtige Weltsicht die Art und Weise, wie wir über Organisationen nachdenken, begrenzt? Könnten wir eine wirkungsvolle, sinnvolle und beseelte Form der Zusammenarbeit entwickeln, wenn wir unser Glaubenssystem verändern würden?
In vielerlei Hinsicht ist das eine merkwürdige und undankbare Frage. Viele tausend Jahre lang lebten die Menschen unter ständiger Bedrohung durch Hungersnöte und in Angst vor Seuchen; eine Dürre oder eine einfache Grippe konnten ihnen das Leben kosten. Dann brachte uns plötzlich, fast wie aus dem Nichts, die Moderne in den letzten beiden Jahrhunderten nie da gewesenen Wohlstand und eine ständige Erhöhung der Lebenserwartung. Dieser außergewöhnliche Fortschritt kam nicht aus dem Handeln Einzelner, sondern durch die Zusammenarbeit von Menschen in Organisationen:
- Die kleinen und großen Unternehmen in unserer freien Marktwirtschaft haben im Westen einen nie dagewesenen Wohlstand geschaffen und heute helfen sie Millionen von Menschen in Indien, China, Afrika und anderen Teilen der Welt den Weg aus der Armut zu finden. Wir haben außergewöhnlich komplexe Lieferketten geschaffen, die jeden Menschen in Beziehungen mit 3anderen verbinden, was möglicherweise mehr zum Frieden zwischen den Nationen beiträgt, als es politische Abkommen je erreichen konnten.
- Ein enges Netzwerk von Organisationen – Forschungszentren, Pharmaunternehmen, Krankenhäuser, medizinische Ausbildungseinrichtungen, Krankenkassen – wurden in einem weit entwickelten medizinischen System verbunden, das vor einem Jahrhundert noch undenkbar gewesen wäre. Im Laufe des letzten Jahrhunderts hat dieses Netzwerk dazu beigetragen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung z. B. in den USA 20 Jahre höher ausfällt. Die Kindersterblichkeit konnte um 90 % und der Tod im Kindbett um 99 % verringert werden. Infektionskrankheiten wie Polio, Lepra, Pocken und Tuberkulose sind zum großen Teil Geschichte, selbst in den ärmsten Ländern der Welt.
- Im Bereich der Pädagogik hat ein Netzwerk von Bildungseinrichtungen – Kindergärten, Grund- und Mittelschulen, Gymnasien und Universitäten – die Ausbildung, die einst das Privileg weniger war, für Millionen Kinder und Jugendliche zugänglich gemacht. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gab es für jedes Kind kostenfreie öffentliche Bildungssysteme. Die hohen Raten der Alphabetisierung, die wir heute als selbstverständlich erachten, gab es noch nie zuvor in der Geschichte.
- Überall in der Welt ist seit einigen Jahrzehnten der gemeinnützige Sektor in spektakulärer Weise gewachsen, wobei dort mehr Arbeitsstellen entstanden, als durch gewinnorientierte Unternehmen. Immer mehr Menschen spenden Zeit, Energie und Geld, um Zwecke und Anliegen zu unterstützen, die ihnen wichtig sind und der Welt dienen.
In weniger als zwei Jahrhunderten haben moderne Organisationen für die Menschheit sensationelle Fortschritte ermöglicht – ein Augenzwinkern in der Geschichte unserer Spezies. Keine der neuen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte wäre ohne Organisationen als Mittel menschlicher Zusammenarbeit möglich gewesen.
Aber trotzdem haben viele Menschen den Eindruck, dass die heutige Organisationsführung ihre Grenzen erreicht hat. Das Leben in Organisationen erfahren wir zunehmend als desillusionierend. Für die Menschen, die am Boden der Pyramide arbeiten, besagen Umfragen übereinstimmend, dass die Arbeit meist als notwendiges Übel und ständige Anstrengung gesehen wird und wenig mit Begeisterung oder Sinn zu tun hat. Die Tatsache, dass die Dilbert-Cartoons von Scott Adams zu kulturellen Ikonen werden konnten, sagt viel darüber aus, inwieweit vielen Menschen die Arbeit in Organisationen unerträglich und sinnlos erscheint. Und das ist nicht nur am Boden der Pyramide so. Während der 15 Jahre, in denen ich Führungskräfte in Organisationen beraten und gecoacht habe, konnte ich ein gut gehütetes Geheimnis durchschauen: Das Leben an der Spitze der Pyramide bringt nicht mehr Erfüllung. Hinter der Fassade und dem Prunk besteht auch das Leben mächtiger Führungskräfte aus stillem Leiden. Ihre hektische Geschäftigkeit ist oft ein schlechter Deckmantel für ein tiefes Gefühl innerer Leere. Die Machtspiele, die politischen Manipulationen und die Konkurrenzkämpfe fordern schließlich von jedem Beteiligten ihren Preis. Am 4Boden und an der Spitze sind Organisationen meist Spielfelder für die unerfüllten Ziele unseres Egos, die tiefere Sehnsucht unserer Seele hat dort keinen Platz.
Instinktiv wissen wir, dass das Management veraltet ist. Wir wissen, dass die Rituale und Routinen im Lichte des beginnenden 21. Jahrhunderts ziemlich deplatziert aussehen. Deshalb kommen einem die Witze in einem Dilbert Cartoon und eine Episode von Das Büro zugleich bekannt und peinlich vor.
Gary Hamel
Dieses Buch ist aber keine Schimpftirade über große Unternehmen, die vor Gier wahnsinnig geworden sind. Menschen, die in Regierungs- oder gemeinnützigen Organisationen arbeiten, sind meist nicht viel besser auf ihren Arbeitsplatz zu sprechen. Selbst Tätigkeiten, in denen Menschen einer Berufung folgen, sind nicht immun gegen eine Desillusionierung mit den Organisationsstrukturen. Lehrer, Ärzte sowie Krankenschwestern und -pfleger verlassen massenhaft ihre Berufe. Unsere Schulen sind leider meist seelenlose Maschinen, in denen Lehrer und Schüler einfach vorgeschriebenen Abläufen folgen. Wir haben Krankenhäuser in kalte, bürokratische Institutionen verwandelt, die den Ärzten und dem Pflegepersonal ihre Fähigkeit nehmen, aus ihrem Herzen für die Menschen zu sorgen.
Die Fragen, durch die die Recherche für dieses Buch ausgelöst wurde
Die Art und Weise, wie wir die gegenwärtigen Probleme von Organisationen zu lösen versuchen, machen die Lage schlechter und nicht besser. Die meisten Organisationen haben viele Runden mit Change-Programmen, Fusionierungen, Zentralisierungen und Dezentralisierungen, neuen IT-Systemen, neuen Leitbildern, neuen strategischen Managementsystemen oder neuen Prämiensystemen durchlaufen. Es macht den Eindruck, als hätten wir die gegenwärtige Organisationsführung bis an ihre Grenzen ausgereizt, und diese traditionellen Rezepte scheinen eher ein Teil des Problems zu sein als deren Lösung.
Wir sehnen uns nach mehr, nach einer radikal anderen Weise der Zusammenarbeit in Organisationen. Aber ist das wirklich möglich oder nur Wunschdenken? Wenn es möglich ist, Organisationen zu schaffen, die mehr von unserem menschlichen Potenzial zugänglich machen, wie würden sie dann aussehen? Wie können wir sie verwirklichen? Dies sind die Fragen, die im Zentrum dieses Buches stehen.
Für mich sind dies keine akademisch interessanten Fragen, sondern sehr praktische Anliegen. Immer mehr Menschen sehnen sich danach, beseelte Organisationen zu schaffen, wenn sie nur wüssten, wie das möglich ist. Viele von uns müssen nicht davon überzeugt werden, dass wir neue Formen von Unternehmen, Schulen und Krankenhäusern brauchen. Aber Voraussetzung dafür ist das Vertrauen, dass es tatsächlich möglich ist, und dass es Antworten auf einige ganz konkrete Fragen gibt. Die hierarchische Pyramide erscheint veraltet, aber welche andere Struktur könnte sie ersetzen? Was ist mit der Entscheidungsfindung? Jeder sollte in der Lage sein, bedeutungsvolle Entscheidungen zu treffen, nicht nur ein paar Leute „ganz oben“, aber führt das nicht ins Chaos? Und wie 5gehen wir mit Beförderungen und Lohnerhöhungen um? Können wir Herangehensweisen an solche Themen finden, ohne strategischen Überlegungen zu folgen, die einem Konkurrenzdenken entstammen? Wie können wir Meetings gestalten, die produktiv und von positiver Stimmung getragen sind, wo wir aus unseren Herzen sprechen und nicht aus unserem Ego? Wie können wir einen Sinn finden, der zum Zentrum für all unser Tun wird, und den Zynismus vermeiden, der oft durch abgehobene Leitbilder ausgelöst wird? Wir brauchen nicht nur eine große Vision einer neuen Organisationsform. Wir brauchen konkrete Antworten auf viele solcher konkreten Fragen.
Die größte Gefahr in Zeiten des Umbruchs ist nicht der Umbruch selbst – es ist das Handeln mit der Logik von gestern.
Peter Drucker
Das Einnehmen dieser praktischen Perspektive befreit uns nicht davon, auch die weitaus größeren gesellschaftlichen und ökologischen Implikationen zu berücksichtigen. Die Art und Weise unseres Wirtschaftens hat die Grenzen der Ressourcen unseres Planeten überschritten. Unsere Organisationen tragen in großem Maße zur Ausbeutung natürlicher Ressourcen, der Zerstörung von Ökosystemen, dem Klimawandel, der Erschöpfung der Trinkwasservorräte und der Verringerung der Humusschicht bei. Wir treiben ein Spiel mit dem Feuer, in dem es um unsere Zukunft geht, und hoffen darauf, dass noch mehr Technologie die Wunden heilen wird, die die Moderne auf dem Planeten hinterlassen hat. Ökonomisch gesehen wird ein Modell des grenzenlosen Wachstums mit begrenzten Ressourcen unweigerlich an sein Ende kommen; und die letzte Finanzkrise war vielleicht nur ein Vorbeben, dem noch größere Beben folgen werden. Es ist wohl keine Übertreibung, sondern traurige Realität, dass das Überleben vieler Tierarten, Ökosysteme und vielleicht der Menschheit selbst von unserer Fähigkeit abhängt, uns zu höheren Formen des Bewusstseins zu entwickeln und von dort aus in neuer Weise zusammenzuarbeiten, um unsere Beziehung mit der Welt zu transformieren und die Schäden, die wir angerichtet haben, zu heilen.
Organisationen im Laufe der Evolution (Kapitel 1 des Buches)
Einstein prägte den bekannten Satz, dass Probleme nicht mit der gleichen Bewusstseinsebene gelöst werden können, die sie verursacht hat. Vielleicht müssen wir Zugang zu einer neuen Bewusstseinsstufe und einer neuen Weltsicht finden, um unsere Organisationen neu zu erfinden. Für einige Menschen mag die Vorstellung, dass sich die Gesellschaft zu einer neuen Weltsicht entwickeln kann, von dem aus wir eine radikal neue Organisationsform schaffen können, als Wunschdenken erscheinen. Aber das ist genau das, was in der Menschheitsgeschichte schon mehrere Male geschehen ist, und es gibt Anzeichen, die darauf hinweisen, dass uns vielleicht bald eine weitere Veränderung der Denkweise – und damit ein neues Organisationsmodell – bevorsteht.
6Eine große Anzahl von Forschern – darunter Psychologen, Philosophen und Anthropologen – haben die Reise des menschlichen Bewusstseins genau untersucht. Sie haben herausgefunden, dass wir uns in der etwa 100.000 Jahre langen Geschichte der Menschheit durch eine Reihe aufeinanderfolgender Stufen entwickelt haben. Auf jeder Stufe machten wir einen Sprung in unseren kognitiven, moralischen und psychologischen Fähigkeiten im Umgang mit der Welt. Es gibt einen wichtigen Aspekt, den die Forscher bisher meist übersehen haben: Jedes Mal, wenn sich die Menschheit zu einer neuen Stufe bewegte, erfand sie eine neue Weise der Zusammenarbeit, ein neues Organisationsmodell. Das erste Kapitel des Buches folgt dieser Geschichte: wie sich das Bewusstsein der Menschheit entwickelt hat und wie wir auf jedem Schritt des Weges neue Organisationsmodelle erfunden haben. (Diese nacheinander entstandenen Modelle gibt es noch heute, deshalb kann uns diese historische Perspektive sehr viel lehren, um die verschiedenen Organisationsformen zu verstehen, die noch heute angewandt werden, und um die Debatten, die gegenwärtig im Bereich des Managements geführt werden, besser nachzuvollziehen.)
Nun kommen wir zum besonders spannenden Punkt: Die Entwicklungspsychologie hat viel über die nächste Stufe des menschlichen Bewusstseins zu sagen, in die wir uns gerade erst hineinbegeben. Zu dieser neuen Stufe gehört, dass wir unser Ego in die Schranken weisen und nach einer authentischeren und heilsameren Daseinsweise suchen. Wenn die Vergangenheit uns etwas über die Zukunft sagen kann, dann werden wir beim Wachsen in diese nächste Bewusstseinsstufe auch ein neues, damit einhergehendes Organisationsmodell entwickeln.
Empirische Forschung – was uns die Pioniere lehren können (Kapitel 2 des Buches)
Das zweite Kapitel des Buches beschreibt in praktischen Einzelheiten, wie Organisationen auf dieser neuen Stufe arbeiten. Dort sehen wir, dass uns die Zukunft nicht nur bevorsteht – sie zeigt sich schon in der Gegenwart. Zwei Jahre lang habe ich bahnbrechende Organisationen untersucht, die schon in signifikantem Maße mit einem neuen Organisationsmodell arbeiten, das mit der nächsten Stufe der menschlichen Entwicklung einhergeht. Als ich diese zukunftsweisenden Organisationen untersuchte, beschäftigten mich folgende Fragen:
Wie sehen Organisationen aus, die nach dieser nächsten Bewusstseinsstufe geformt werden, und wie ist es, darin zu arbeiten? Ist es bereits möglich, ihre Strukturen, Praktiken, Prozesse und Kulturen in nützlichen Einzelheiten zu beschreiben (mit anderen Worten, ihr Organisationsmodell konzeptuell nachzuvollziehen), um anderen Menschen zu helfen, ähnliche Organisationen zu schaffen?
Ich wusste nicht, was mich erwartete, als ich mich in diese Untersuchung zukunftsweisender Organisationen begab. Dieses Feld entsteht ja erst; würde ich trotzdem gute Beispiel finden? Würde ich nur auf kleine Organisationen stoßen, 7mit einer kurzen Geschichte, die kaum wirklich bedeutsame Einsichten boten? In jedem Fall war ich der Ansicht, dass es recht strenge Auswahlkriterien geben musste – sonst hätten die Erkenntnisse, die die Studie formulieren würde, nicht genug Wert. Um in diese Recherche mit aufgenommen zu werden, konnten die Organisationen aus allen geografischen Bereichen oder Sektoren kommen (Wirtschaft, gemeinnützige Organisationen, Bildung, Gesundheit, Regierungsorganisationen), aber sie mussten mindestens 100 Menschen beschäftigen,[3] und seit mindestens fünf Jahren nach Strukturen, Prozessen, Praktiken und Kulturen arbeiten, die mit den Merkmalen der nächsten Entwicklungsstufe einhergehen.
Meine Sorgen stellten sich als unbegründet heraus. Die zwölf Organisationen, die ich untersuchte (im Kapitel 2.1 finden Sie einen Überblick), übertrafen diese Vorgaben bei Weitem. Viele arbeiten schon seit Langem nach diesen neuen Prinzipien, manche seit 30 oder 40 Jahren, und nicht nur mit einer Handvoll Mitarbeiter, sondern mit einigen Hundert und in einigen Fällen mehreren Tausend Angestellten.
Es gab noch eine weitere Überraschung: Ich erwartete, vor allem im Dienstleistungsgewerbe entsprechende Beispiele zu finden – also im Gesundheitswesen oder in der Pädagogik –, wo die Arbeit oftmals eine Berufung ist und der ideelle Zweck der Organisationen den Menschen hilft, ihre selbstbezogenen Motivationen zu überwinden. Ich war froh, dass sich diese Annahme als falsch herausstellte. Unter diesen Pionieren gibt es sowohl Wirtschaftsunternehmen als auch gemeinnützige Organisationen. Dazu zählen Einzelhändler, Produktionsbetriebe, ein Energieunternehmen, ein Nahrungsmittelhersteller, eine Schule und eine Klinikgruppe.
Mich überraschte auch, dass diese Organisationen einander nicht kannten. Wenn ich solche Pioniere finden würde, hatte ich erwartet, dass sie gleichgesinnte Kollegen kennen würden und mit ihnen Einsichten und Erfahrungen austauschten. Stattdessen waren sie im Allgemeinen erfreut zu hören, dass sie nicht die Einzigen waren, die ein Experiment wagten, in dem sie die heutigen Managementpraktiken hinterfragten. Im Scherz betrachtete ich diese Organisationen als freundliche Aliens, wie es sie in alten Fernsehserien zu sehen gab, die nun schon seit einiger Zeit unter uns leben, ausgestattet mit übernatürlichen Kräften, aber isoliert und unerkannt. Vielleicht sind wir nun endlich bereit, sie als das zu sehen, was sie sind: nicht nur freundliche oder merkwürdige Außenseiter, sondern Pioniere unserer kollektiven Zukunft.
Die Untersuchung dieser Fallstudien umfasste zwei Sammlungen von Fragen (die im Anhang 2 aufgelistet sind). Die erste Fragensammlung bezog sich auf 45 Praktiken und Prozesse, die in der Organisationsforschung allgemein diskutiert werden:
- zentrale übergreifende Organisationsprozesse wie Strategie, Marketing, Verkauf, Unternehmensführung, Finanzplanung und Kontrolle;
- die wichtigsten Prozesse im Bereich Personalführung, einschließlich Einstellungen, Weiterbildung, Evaluation, Vergütung; und
- ausschlaggebende Praktiken des Alltags wie Meetings, Informationsfluss und Büroräume.
8Für jeden dieser 45 Bereiche versuchte die Recherche herauszufinden, ob und auf welche Weise sich die Praktiken der Pioniere von konventionellen Managementmethoden unterscheiden. Der Ansatz war absichtlich sehr weit und offen gefasst: Angesichts der neu entstehenden Natur dieses Themas, betrachtete die Forschung das gesamte Spektrum von Strukturen, Praktiken und Kulturen, die typischerweise in der Organisationsforschung eine Rolle spielen, ohne von bestimmten Vorannahmen auszugehen. Dabei wurden öffentlich zugängliches Material, interne Dokumente, Interviews und Besuche vor Ort herangezogen.
Warnhinweis
Jede der zukunftsweisenden Organisationen ist für sich genommen beeindruckend und hätte ein ganzes Buch verdient, um ihre spezielle Geschichte zu erzählen. Aber in meiner Untersuchung war ich natürlich neugierig, ob daraus mehr werden konnte als eine Sammlung von Fallstudien: Gibt es Muster und Gemeinsamkeiten, die auf ein kohärentes neues Modell hindeuten? Können die Pioniere nicht nur Inspiration geben, sondern zeigt sich in ihrer Arbeit ein Modell für die Menschen, die neue, beseelte Organisationsformen entwickeln wollen.
Die Organisationen, die für dieses Buch untersucht wurden, sind wie freundliche Aliens, wie es sie in alten Fernsehserien zu sehen gab, die nun schon seit einiger Zeit unter uns leben und trotz ihrer übernatürlichen Kräfte unerkannt blieben.
Meine Untersuchungen zeigten, dass dies in der Tat möglich ist. Diese wegweisenden Organisationen kannten einander nicht und experimentierten für sich allein; sie arbeiten in radikal unterschiedlichen Sektoren und an verschiedenen Orten; einige haben Hunderte, andere Zehntausende Mitarbeiter. Trotzdem haben sie nach vielen Runden von Versuch und Irrtum überraschend ähnliche Strukturen und Praktiken gefunden. Mir fällt es schwer, nicht davon begeistert zu sein. Es bedeutet, dass ein kohärentes Organisationsmodell zu entstehen scheint, das wir bis in die Einzelheiten beschreiben können. Dies ist kein theoretisches Modell, keine utopische Idee, sondern ein ganz konkreter Weg, um Organisationen von einer höheren Bewusstseinsstufe aus zu führen. Wenn wir anerkennen, dass die menschliche Evolution eine Richtung hat, dann zeigt sich hier etwas Außergewöhnliches: ein Entwurf für die Zukunft von Organisationen, mehr noch, ein Entwurf für die Zukunft der Arbeit.
Ich schreibe diese Zeilen in dem vollen Bewusstsein, dass wir uns in den frühen Tagen dieses neu entstehenden Phänomens befinden. Deshalb bin ich nicht der Ansicht, dass dieses Buch eine definitive, fixe Beschreibung dieses neuen Organisationsmodells bietet. Während immer mehr Unternehmen in diesem Bereich neue Wege gehen, weitere Forscher sie aus verschiedenen Blickwinkeln untersuchen und die Gesellschaft als Ganzes sich entwickelt, wird das Bild mit mehr Einzelheiten und Strukturen ausgefüllt werden. Aber ich bin der Überzeugung, dass wir schon jetzt einen Entwurf erkennen können, der uns zeigt, wie wir unterschiedliche Organisationen so gestalten können, dass sie weitaus 9produktiver, erfüllender und sinnorientierter arbeiten. Führungskräfte, die neue Organisationsformen entwickeln wollen, müssen nicht bei null anfangen; sie können sich von den detaillierten Beschreibungen im zweiten Kapitel dieses Buches inspirieren lassen, in dem die Prinzipien, Strukturen, Praktiken und Kulturen ausgeführt werden, die ein neues Zusammenkommen in Organisationen unterstützen.
Notwendige Bedingungen (Kapitel 3 des Buches)
Die Untersuchung für dieses Buch brachte auch interessante Einsichten über den Weg hervor, durch den solche neuen Organisationen entstehen können (basierend auf der zweiten Gruppe von Recherche-Fragen – siehe Anhang 1). Welche Bedingungen sind notwendig, um dieses neue Modell funktionsfähig zu machen? Wenn Sie planen, eine Organisation zu gründen und von Anfang an das alte Modell vermeiden wollen, um auf einer neuen Grundlage zu beginnen, was können Sie dann von den Pionieren lernen, die es vor Ihnen getan haben? Oder wenn Sie eine bestehende Organisation führen – sei sie klein oder groß – und überlegen, sie in Richtung dieses neuen Paradigmas zu verändern, wie könnten Sie dann sinnvollerweise beginnen und Ihre Kollegen auf diesen Weg mitnehmen? Das sind einige der Fragen, denen wir uns im dritten Kapitel des Buches zuwenden werden.
Wenn wir die herausfordernden Probleme unserer Zeit lösen wollen, werden wir neue Organisationsformen brauchen – stärker sinnorientierte Wirtschaftsunternehmen, beseelte Schulen, wirkungsvollere gemeinnützige Organisationen. Jeder, der aus den alten Bahnen ausbricht und sich ins Neue begibt, wird wahrscheinlich auf Widerstände stoßen und als Idealist oder Narr bezeichnet werden. Die Anthropologin Margaret Meade sagte einst: „Unterschätze niemals die Kraft einiger engagierter Menschen, die Welt zu verändern. In der Tat wurde die Welt nur durch solche Menschen verändert.“ Wenn Sie einer davon sind, wenn Sie sich berufen fühlen, eine zutiefst beseelte, sinnvolle und produktive Arbeitsumgebung zu schaffen, dann hoffe ich, dass Ihnen dieses Buch zusätzliches Vertrauen darin geben kann, dass es möglich ist. Möge es Sie als praktischer Leitfaden auf Ihrem Weg begleiten. Ich habe keinen Zweifel, dass die Welt bereit ist und auf Sie wartet.
111 Eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive
Kapitelübersicht
1.1 Paradigmenwechsel: Organisationsmodelle in Vergangenheit und Gegenwart
1.1 Paradigmenwechsel: Organisationsmodelle in Vergangenheit und Gegenwart
Sehen heißt nicht glauben: Glauben heißt sehen!
Du siehst die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern wie du bist.
Eric Butterworth
Können wir Organisationen schaffen, die von den Pathologien frei sind, die sich allzu oft am Arbeitsplatz zeigen? Frei von politischen Grabenkämpfen, Bürokratie und Konkurrenz; frei von Stress und Burnout; frei von Resignation, nachtragenden Gedanken und Teilnahmslosigkeit; frei von großspurigem Verhalten an der Spitze und der erschöpfenden Arbeit auf den unteren Ebenen? Können wir Organisationen neu erfinden und ein neues Modell entwickeln, das die Arbeit produktiv, erfüllend und sinnvoll macht? Können wir beseelte Arbeitsplätze schaffen – Schulen, Krankenhäuser, Unternehmen und gemeinnützige Organisationen –, wo unsere Talente sich entfalten können und unsere Berufungen wertgeschätzt werden?
Wenn Sie Gründer oder Leiter einer Organisation sind und eine neue Arbeitsumgebung gestalten wollen, hängt viel von Ihrer Antwort auf diese Frage ab! Viele Menschen in Ihrer Umgebung werden diese Idee als Wunschdenken abtun und versuchen, Sie davon abzubringen. „Die Menschen ändern sich nicht“, sagen sie, „wir alle haben Egos, wir wollen nur unseren eigenen Vorteil. Wir beschuldigen gern andere, kritisieren und verbreiten Gerüchte. Das wird sich nie ändern.“ Wer kann dem widersprechen? Aber andererseits haben wir alle diese besonderen Momente der Teamarbeit erlebt, wo Leistungen ohne Anstrengung und mit tiefer Freude möglich waren. Die menschliche Genialität kennt keine Grenzen und radikale Innovationen entstehen plötzlich wie aus dem Nichts. Wer würde wetten, dass wir nicht in der Lage sein werden, bessere Arbeitsumgebungen zu schaffen?
12Auf welche Stimme sollten Sie also hören? Können wir vom Land „Management-wie-wir-es-kennen“ ablegen und Kurs auf eine neue Welt nehmen? Oder werden Sie einfach vom Rand der Welt fallen, weil es hinter dem Bekannten nichts mehr gibt?
Zu meiner Überraschung fand ich einen Teil der Antwort nicht beim Blick nach vorn, sondern durch den Blick zurück in die Vergangenheit. Im Laufe der Geschichte hat die Menschheit mehrere Male die Art und Weise, wie Menschen zusammenkommen, um gemeinsam zu arbeiten, neu erfunden – und dabei jedes Mal ein weitaus überlegenes Organisationsmodell geschaffen. Zudem deutet diese historische Perspektive auf ein neues Organisationsmodell hin, dass kurz bevorsteht und auf seine Verwirklichung wartet.
Der Schlüssel zu dieser historischen Perspektive kommt interessanterweise nicht aus der Geschichte der Organisationen, sondern allgemeiner gesprochen aus dem Feld der menschlichen Geschichte und der Entwicklungspsychologie. Es zeigt sich, dass im Laufe der Geschichte die Organisationsformen, die wir erfunden haben, mit der vorherrschenden Weltsicht und dem bestimmenden Bewusstsein verbunden waren. Jedes Mal, wenn wir als Spezies unser Denken über die Welt verändert haben, entwickelten wir wirkungsvollere Organisationsformen.
Eine große Anzahl von Menschen – Historiker, Anthropologen, Philosophen, Mystiker, Psychologen und Neurowissenschaftler – haben sich dieser zutiefst faszinierenden Frage gewidmet: Wie hat sich die Menschheit von den frühesten Formen des menschlichen Bewusstseins zum komplexen Bewusstsein der modernen Zeit entwickelt? (Einige widmeten sich auch einer damit verbundenen Frage: Wie entwickeln wir uns als Menschen heute von der vergleichsweise einfachen Bewusstseinsform bei der Geburt zum Bewusstsein des vollen Erwachsenenalters?)
Diese Fragen haben Menschen aus allen möglichen Blickwinkeln betrachtet. Abraham Maslow hat bekanntermaßen untersucht, wie sich menschliche Bedürfnisse in der Menschheitsgeschichte entwickelt haben, von grundlegenden physiologischen Bedürfnissen bis hin zur Selbstverwirklichung. Andere haben die Entwicklung durch die Perspektive der Weltsichten (Jean Gebser und andere), kognitiven Fähigkeiten (Jean Piaget), Werte (Clare Graves), der moralischen Entwicklung (Lawrence Kohlberg, Carol Gilligan), Selbstidentität (Jane Loevinger), Spiritualität (James Fowler), Führungsstile (Susanne Cook-Greuter, Robert Kegan, Bill Torbert) usw. betrachtet.
In ihren Untersuchungen haben sie immer wieder zeigen können, dass sich die Menschheit in Stufen entwickelt. Wir sind nicht wie Bäume, die kontinuierlich wachsen. Wir entwickeln uns durch plötzliche Transformationen, wie eine Raupe, die zum Schmetterling wird, oder eine Kaulquappe, die sich zum Frosch entwickelt. Heute ist unser Wissen über die menschliche Entwicklung sehr stichhaltig. Insbesondere zwei Denker – Ken Wilber und Jenny Wade – haben außergewöhnliche Arbeit geleistet, weil sie alle wichtigen Stufenmodelle miteinander verglichen und einander gegenübergestellt haben und dabei starke Übereinstimmungen feststellen konnten. Jedes Modell betrachtet vielleicht einen anderen Teil des Berges (eines schaut z. B. auf Bedürfnisse, das andere auf die Kognition), aber es ist der gleiche Berg. Diese Forscher geben den Stufen 13vielleicht unterschiedliche Namen oder unterteilen und gruppieren sie anders. Aber das zugrunde liegende Phänomen ist das gleiche, so wie die Maßeinheiten Celsius und Fahrenheit darstellen, dass es einen Punkt gibt, wo Wasser gefriert, und einen anderen, bei dem es kocht. Diese Entwicklungsperspektive konnte durch starke Evidenz aus großen Datenmengen gestützt werden. Wissenschaftler wie Jane Loevinger, Susanne Cook-Greuter, Bill Tolbert und Robert Kegan haben diese Stufentheorie mit vielen Tausend Menschen in verschiedenen Kulturen getestet, unter anderem in Organisationen und Unternehmen.
Philosophen, Mystiker aus vielen Weisheitstraditionen, Psychologen und Neurowissenschaftler haben sich alle dieser zutiefst faszinierenden Frage gewidmet: Wie hat sich die Menschheit von den frühesten Formen des menschlichen Bewusstseins zum komplexen Bewusstsein der modernen Zeit entwickelt?
Jede Bewegung in eine neue Bewusstseinsstufe hat eine völlig neue Ära der Menschheitsgeschichte eingeläutet. An jedem Wendepunkt veränderte sich alles: die Gesellschaft (entwickelte sich von Familiengruppen zu Stämmen zu Imperien zu Nationalstaaten); die Ökonomie (von Jägern und Sammlern zu Gartenbau, Landwirtschaft und Industrialisierung); die Machtstrukturen; die Rolle der Religion. Aber ein Aspekt hat bisher noch nicht viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Mit jeder neuen Stufe des menschlichen Bewusstseins ging auch ein Durchbruch in unserer Fähigkeit zur Zusammenarbeit einher, was zu einem neuen Organisationsmodell führte. Die Organisationen, die wir heute kennen, sind der Ausdruck unserer gegenwärtigen Weltsicht, unserer momentanen Entwicklungsstufe. Es gab zuvor andere Modelle und alles deutet darauf hin, dass es weitere geben wird.
Wie sehen nun die Organisationsmodelle in der Vergangenheit und Gegenwart der Menschheitsgeschichte aus – und wie könnte das nächste Modell beschaffen sein? In diesem Abschnitt nehme ich Sie mit auf eine kurze Reise durch die wichtigsten Stufen der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und den damit einhergehenden Organisationsmodellen. Meine eigene Beschreibung der Stufen geht auf viele Forscher, vor allem auf die Metaanalysen von Wade und Wilber zurück. Wobei ich kurz verschiedene Facetten jeder Stufe erwähne – die Weltsicht, die Bedürfnisse, die kognitive Entwicklung und die moralische Entwicklung. Ich bezeichne jede Stufe und das damit verbundene Organisationsmodell mit zwei erklärenden Begriffen und einer Farbe. Die Bezeichnung der Stufen ist immer schwierig, denn ein einziger Begriff wird nie die gesamte komplexe Realität einer Stufe des menschlichen Bewusstseins umfassen können. Ich habe Adjektive gewählt, die am Ehesten diese Stufe wiedergeben, in einigen Fällen habe ich dabei eine Bezeichnung aus schon bestehenden Stufentheorien übernommen, in anderen Fällen habe ich einen Namen gewählt, den ich geprägt habe. In der Integralen Theorie werden die Stufen oft nicht mit einem Namen, sondern mit einer Farbe bezeichnet. Bestimmten Menschen erleichtert diese Farbencodierung die Erinnerung, deshalb bezeichne ich die Stufen in diesem Buch auch mit der korrespondierenden Farbe (um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich noch hinzufügen, dass diese Benennung nicht folgende Tatsache verdecken sollte: Die Art und Weise, wie ich die Bewusstseinsstufen beschreibe, stammt aus meiner eigenen Synthese der Arbeit verschiedener Autoren, 14sie wird deshalb im Allgemeinen, aber nicht immer in jedem Detail mit der Beschreibung der gleichen Stufen in der Integralen Theorie übereinstimmen).
Das reaktive Paradigma (Infrarot)[1]
Dies ist die früheste Entwicklungsstufe der Menschheit, die etwa die Zeit von 100.000 bis 50.000 v. Chr. umfasst, als wir in kleinen Familiengruppen lebten (in einigen abgelegenen Teilen der Welt gibt es solche Gruppen heute noch, woher unser Wissen über diese Stufe stammt). Diese Gruppen zählen meist nur einige Dutzend Menschen. Über diese Anzahl hinaus fallen diese Gruppen auseinander, denn die Fähigkeit, mit Komplexität in Beziehungen umzugehen, ist auf dieser Stufe sehr begrenzt. Das Ego hat sich noch nicht voll ausgeformt; die Menschen nehmen sich noch nicht als vollkommen verschieden von anderen und der Umwelt wahr (weshalb einige diese Periode romantisieren und es als eine Art Seligkeit vor dem Dualismus sehen, wobei sie die extrem hohe Rate von Gewalt und Mord auf dieser Stufe ignorieren). Die Nahrungssuche ist die Grundlage des Überlebens. Dieses Modell erfordert keine nennenswerte Arbeitsteilung (ausgenommen die Frauen, die Verantwortung für das Gebären und die Pflege der Kinder übernehmen), deshalb gibt es auf dieser Stufe noch kein Organisationsmodell. In der Gruppe gibt es keine Hierarchie – es gibt keinen Ältesten oder Häuptling, der eine Führungsrolle übernimmt.
Heutzutage gibt es nur wenige Gruppen, die aus diesem Paradigma leben. Aber Kinderpsychologen untersuchen neugeborene Babys, was in etwa dieser Stufe entspricht – neugeborene Babys verbinden sich mit der Welt in einer vergleichbaren Form von Bewusstsein, worin das Konzept des Selbst noch nicht vollkommen von der Mutter und der Umgebung verschieden ist.
Das magische Paradigma (Magenta)[2]
Vor etwa 15.000 Jahren und an manchen Orten der Welt vielleicht früher begann sich die Menschheit zu einer Bewusstseinsstufe zu bewegen, die einige Autoren als „magisch“ bezeichnet haben. Diese Stufe korrespondiert mit der Bewegung von kleinen Familiengruppen zu Stämmen mit bis zu wenigen Hunderten Menschen. Psychologisch und kognitiv bedeutet diese Stufe einen großen Schritt in der Fähigkeit, mit Komplexität umzugehen. Auf dieser Stufe ist das Selbst körperlich und emotional zum größten Teil von anderen differenziert, aber es sieht sich immer noch als das Zentrum des Universums. Ursache und Wirkung können kaum nachvollzogen werden, deshalb ist die Welt voller Geister und Magie: die Wolken bewegen sich, um mir zu folgen; schlechtes Wetter ist die Strafe der Geister für meine bösen Taten. Um diese magische Welt zu besänftigen, suchen die Stämme ihr Heil in rituellem Verhalten und im Vertrauen auf den Stammesältesten oder den Schamanen. Die Menschen leben meist in der Gegenwart, mit einigen Elementen aus der Vergangenheit, aber es gibt kaum Projektionen in die Zukunft. Im kognitiven Bereich gibt es noch keine Abstraktion, keine Klassifizierung und kein Konzept von großen Mengen. Der Tod wird nicht als 15besonders real gesehen und es gibt bezeichnenderweise auch keine Angst vor dem Tod (was die weiterhin starke Gewalt und die vielen Tötungen erklärt). Auf dieser Stufe gibt es noch keine Organisationen. Die Aufgabenteilung ist sehr begrenzt, obwohl die Älteren einen besonderen Status und ein gewisses Maß von Autorität genießen.
Heute wird diese Stufe typischerweise von Kindern im Alter von etwa 24 Monaten erfahren. Sie erlangen die sensorisch-motorische Differenzierung (Wenn ich in meinen Finger beiße, ist es anders, als wenn ich in die Decke beiße) und emotionale Differenzierung (Ich bin nicht meine Mutter, aber in ihrer Gegenwart fühle ich mich auf magische Weise sicher). Mit angemessener Pflege entwickeln sich die meisten Kinder über diese Stufe hinaus.
Das tribale impulsive Paradigma (Rot)[3]
Historisch gesehen war der Übergang zum tribalen impulsiven Paradigma ein weiterer großer Schritt für die Menschheit. Es brachte vor ungefähr 10.000 Jahren die ersten Stammesfürstentümer und anfänglichen Imperien hervor. Hier entstand auch die erste Form von Organisation (die ich im Weiteren als tribale Organisationen bezeichnen werde).
Das Ego ist nun vollkommen ausgebildet und die Menschen haben ein Selbstgefühl, das völlig getrennt von anderen und der Welt ist. Anfangs ist diese Erkenntnis furchterregend: zum ersten Mal wird der Tod in einer neuen Weise real. Wenn ich nur ein kleiner Teil bin, der getrennt vom Ganzen ist, dann könnte ich leiden und sterben. Auf dieser Stufe wird die Welt als ein gefährlicher Ort gesehen, wo die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse davon abhängt, dass man stark und widerstandsfähig ist. Die Währung in dieser Welt ist Macht. Wenn ich mächtiger bin als du, dann kann ich einfordern, dass meine Bedürfnisse erfüllt werden; wenn du mächtiger bist als ich, dann ordne ich mich unter und hoffe, dass du für mich sorgst. Das emotionale Spektrum ist hier immer noch recht primitiv und die Menschen drücken ihre Bedürfnisse oft durch Wutanfälle und Gewalt aus. Zum großen Teil ist man sich der Gefühle anderer Menschen nicht bewusst. Die Aufmerksamkeit gilt weiterhin vor allem der Gegenwart – Ich will es und ich will es jetzt –, aber diese Impulsivität kann sich etwas in die Zukunft erstrecken, wobei einfache Strategien angewandt werden, die sich auf Macht, Manipulation und Unterordnung stützen. Einfache kausale Beziehungen, wie Belohnung und Strafe, werden verstanden. Das Denken wird von polaren Gegensätzen bestimmt, was ein Schwarz-Weiß-Denken hervorruft – zum Beispiel stark/schwach, mein Weg/dein Weg.
Mit der Differenzierung des Egos wird auch eine Rollenverteilung möglich – mit anderen Worten, eine sinnvolle Arbeitsteilung. Es gibt einen Anführer und einfache Krieger. Hier beginnt in großem Ausmaß die Sklaverei, weil nun Aufgaben aufgeteilt werden können, sodass sie an Feinde aus benachbarten Stämmen übergeben werden, die besiegt und gefangen genommen wurden. In der Geschichte hat dies zur Bildung von Stammesfürstentümern geführt, in denen nicht Hunderte, sondern Tausende oder Zehntausende Menschen regiert 16wurden. Das Verhalten der tribalen Stufe finden wir immer noch in Erwachsenen in vielen Stammesgesellschaften der heutigen Zeit und in unterprivilegierten Bereichen entwickelter Länder, wenn die Umstände den Kindern nicht die angemessene Erziehung ermöglichen, um sich über diese Stufe hinaus zu entwickeln. Jedes Paradigma hat auch seine gute Seite, einen Kontext, in dem es angemessen ist. Das tribale Paradigma ist sehr passend für eine feindliche Umgebung: Schlachtfelder, Bürgerkriege, „gescheiterte Staaten“ (Failed States), Gefängnisse oder gewalttätige Gegenden in Großstädten.
Tribale Organisationen
Organisationen, die nach der tribalen impulsiven Bewusstseinsstufe gebildet wurden, erschienen als Erstes in der Form kleiner Eroberungsarmeen, als die mächtigen Stammesfürstentümer zu anfänglichen Imperien anwuchsen. Auch heute findet man sie noch in der Form von Straßengangs und Mafiaclans. Die gegenwärtigen tribalen Organisationen leihen sich technische Mittel und Ideen von der Moderne – wie zum Beispiel die Waffen und die Informationstechnologie, die im organisierten Verbrechen genutzt werden. Aber sowohl ihre Strategien als auch ihre Praktiken folgen zum großen Teil dem tribalen Paradigma.
Was sind die definierenden Merkmale tribaler Organisationen? Ihr Zusammenhalt wird durch die ständige Machtausübung in den interpersonellen Beziehungen gewährleistet. Wolfsrudel geben hier ein gutes Gleichnis: So wie der Alphawolf seine Macht wenn nötig ausübt, um seinen Status im Rudel zu erhalten,[4] muss der Anführer einer tribalen Organisation überragende Macht demonstrieren und andere an seinen Willen binden, um seine Position zu erhalten. In dem Moment, wo seine Macht in Zweifel gezogen wird, könnte jemand anders versuchen, ihn zu stürzen. Um eine gewisse Stabilität zu schaffen, umgeben sich diese Anführer mit Familienmitgliedern (die meist loyaler eingestellt sind) und erkaufen sich ihre Treue, indem sie die Beute teilen. Im Gegenzug achtet jedes Mitglied ihrer engeren Gefolgschaft auf die eigenen Angehörigen und ihre Treue gegenüber dem Anführer. Im Allgemeinen gibt es keine formale Hierarchie und keine Bezeichnungen für bestimmte Arbeitsaufgaben. Aus diesen Gründen können tribale Organisationen kaum wachsen – es gelingt ihnen selten, Menschen, die sich auch nur etwas vom Anführer entfernt haben, in der Gefolgschaft zu halten. Tribale Organisationen können extrem machtvoll sein (insbesondere in feindlichen Umgebungen, wo Organisationen der nachfolgenden Stufen oft auseinanderbrechen), aber sie sind sehr fragil, aufgrund des impulsiven Verhaltens der Beteiligten (Ich will es, deshalb nehme ich es mir). Der Anführer muss oft auf öffentliche Zurschaustellung von Grausamkeit und Bestrafung zurückgreifen, da nur Angst und Unterordnung die Organisation vor dem Auseinanderfallen bewahren. Mythische Geschichten über die absolute Macht des Anführers machen oft die Runde, um einfache Krieger davon abzuhalten, einen größeren Anteil an der Beute zu verlangen.
Durch den Fokus auf die Gegenwart können tribale Organisationen kaum planen und Strategien bilden, sie reagieren sehr stark auf neue Gefahren und Möglichkeiten, die sie skrupellos ausnutzen. Deshalb sind sie gut an chaotische 17Umgebungen angepasst (bei Bürgerkriegen oder in Failed States), aber sie können kaum komplexe Ergebnisse in stabilen Umgebungen erreichen, wo Planung und Strategiebildung möglich sind.
Das traditionelle konformistische Paradigma (Bernstein)[5]
Jeder Paradigmenwechsel eröffnet neue, nie da gewesene Fähigkeiten und Möglichkeiten. Als das traditionelle konformistische Bewusstsein entstand, bewegte sich die Welt rasant von einer Stammeswelt, die auf Gartenbau beruhte, in das Zeitalter der Landwirtschaft, Staaten und Zivilisationen, Institutionen, Bürokratien und organisierten Religionen. Laut Entwicklungspsychologen leben viele Teile der erwachsenen Bevölkerung in den entwickelten Gesellschaften aus diesem Paradigma.
Auf der traditionellen konformistischen Stufe wird die Wirklichkeit aus einer Newton’schen Perspektive wahrgenommen. Ursache und Wirkung werden verstanden,[6] Menschen können die lineare Zeit nachvollziehen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) und Ereignisse in die Zukunft projizieren. Das ist der Boden, auf dem die Landwirtschaft gedeihen konnte: Landwirtschaft erfordert die Selbstdisziplin und Voraussicht, Samen aus der diesjährigen Ernte zu behalten, um sie im nächsten Jahr wieder aussähen zu können und damit weiter für Nahrung zu sorgen. Durch die bessere Nahrungsmittelversorgung durch die Landwirtschaft konnte nun eine Klasse von Machthabern, Verwaltern, Priestern, Kriegern und Handwerkern ernährt werden. So vollzog sich der Übergang von Stammesfürstentümern zu Staaten und Zivilisationen, der etwa 4000 v. Chr. in Mesopotamien begann.
Das traditionelle Bewusstsein entwickelt ein tieferes Gewahrsein für die Gefühle und Wahrnehmungen anderer Menschen. Jean Piaget, der Pionier der Entwicklungspsychologie bei Kindern, hat für die konformistische Kognition ein definierendes Experiment erstellt. Ein zweifarbiger Ball wird zwischen einem Kind und einem Erwachsenen gelegt, dabei zeigt die grüne Seite zum Kind und die rote Seite zum Erwachsenen. Vor der konformistischen Stufe kann das Kind die Welt noch nicht aus den Augen eines anderen Menschen sehen und wird deshalb behaupten, dass auch der Erwachsene einen grünen Ball sieht. Ein Kind, das in einer fürsorglichen Umgebung aufgezogen wird, kann im Alter von sechs oder sieben Jahren die Welt aus den Augen eines anderen Menschen wahrnehmen und wird somit richtigerweise feststellen, dass der Erwachsene die rote Seite des Balles sieht.
Die psychologischen Implikationen sind sehr weitreichend: Ich kann mich mit meiner Perspektive und meiner Rolle identifizieren und verstehen, dass sie anders sind als bei anderen Menschen. Ich kann mir auch vorstellen, wie andere mich sehen. Mein Ego und mein Selbstwert sind nun sehr stark von der Meinung anderer abhängig. Ich werde in meinem sozialen Umkreis nach Bestätigung, Akzeptanz und Zugehörigkeit suchen. Menschen auf dieser Stufe verinnerlichen Gruppennormen und das Denken wird von der Überlegung bestimmt, ob man das richtige Erscheinungsbild, das richtige Verhalten und 18Denken zeigt, um dazuzugehören. Das dualistische Denken der tribalen Stufe ist immer noch gegenwärtig, aber das individuelle Motto „Mein Weg oder dein Weg“ wird durch das kollektive Motto „Wir oder die anderen“ ersetzt. Die Egozentrik des impulsiven Bewusstseins wird durch die ethnozentrische Haltung des konformistischen Bewusstseins ersetzt. Ken Wilber formuliert es folgendermaßen:
Die Fürsorge wird von mir auf die Gruppe erweitert – aber nicht weiter! Wenn du ein Mitglied meiner Gruppe bist – ein Anhänger … meiner Mythologie, meiner Ideologie – dann wirst auch du „erlöst“. Aber wenn du einer anderen Kultur, Gruppe, Mythologie angehörst und an einen anderen Gott glaubst, dann bis du verdammt.[7]
Auf der traditionellen konformistischen Stufe ist das vordem impulsive Selbst nun in der Lage, Selbstdisziplin und Selbstkontrolle zu üben, nicht nur öffentlich, sondern auch im Privaten. Konformistische Gesellschaften haben einfache moralische Regeln, die auf dem einen akzeptierten Verhaltenskodex beruhen. Die traditionelle Weltsicht ist statisch, es gibt unveränderliche Gesetze, die eine gerechte Welt garantieren, in der die Dinge entweder richtig oder falsch sind. Wenn man das Richtige tut, wird man belohnt – in diesem Leben oder im nächsten. Wenn man das Falsche sagt oder tut, dann wird man bestraft oder gar aus der Gruppe ausgeschlossen – und leidet womöglich auch im Jenseits. Die Menschen verinnerlichen die Regeln und die moralischen Grundsätze und fühlen Schuld und Scham, wenn sie davon abweichen. Die Autorität, die bestimmt, was richtig oder falsch ist, wird nun mit einer Rolle verbunden, nicht mehr mit einer mächtigen Person (wie beim tribalen Bewusstsein): es ist die Robe des Priesters, wer sie trägt, hat die Autorität.
Jede umfassende Veränderung der Perspektive, wie der Wandel vom tribalen zum traditionellen Bewusstsein, ist sowohl befreiend als auch furchterregend. Um sich in einer Welt sicher zu fühlen, die von Kausalität, linearer Zeit und dem Gewahrsein für die Perspektiven anderer bestimmt wird, sucht das konformistische Ego nach Ordnung, Stabilität und Voraussagbarkeit. Es versucht, durch Institutionen und Bürokratien Kontrolle zu erreichen. Es findet Zuflucht in genau definierten Rollen und Identitäten. Traditionelle Gesellschaften sind oft sehr stark geschichtet. Kennzeichnende Merkmale sind soziale Klassen oder Kastensysteme und rigide Geschlechterunterschiede. Eine Lotterie bei der Geburt entscheidet sozusagen, in welche Kaste man hineingeboren wird. Von da an ist der Weg vorgezeichnet – wie man sich verhalten muss, was man denken darf, wie man sich kleiden kann, was man essen wird und wen man heiratet, liegt im Rahmen der eigenen Kaste.
Bei den großen Veränderungen in der heutigen Welt erleben einige Menschen die konformistischen Sicherheiten als eine anziehende Zuflucht und rufen nach einer Rückkehr zu eindeutigen und festen moralischen Werten. Wenn man diese Perspektive einnimmt, muss man aber die starke Ungerechtigkeit traditioneller Gesellschaften ignorieren, die strikte soziale und sexuelle Normen durchsetzen. Es kann gelinde gesagt unangenehm sein, in einer traditionellen Gesellschaft als Frau, Homosexueller, Unberührbarer oder freier Denker zu leben.
19Traditionelle Organisationen
Die Entstehung von traditionellen Organisationen führte zu zwei wichtigen Durchbrüchen: Organisationen können nun kurz- und langfristig planen und sie sind in der Lage, Organisationsstrukturen zu schaffen, die stabil sind und wachsen können. Durch die Verbindung dieser beiden Durchbrüche können Organisationen nun nie da gewesene Ergebnisse erzielen, die die Leistungsfähigkeit tribaler Organisationen bei Weitem übersteigen. In der Geschichte haben traditionelle Organisationen Bewässerungssysteme, Pyramiden und die Chinesische Mauer erbaut. Diese Organisationen betrieben die Schiffe, Handelsposten und Plantagen der Kolonialzeit. Die katholische Kirche basiert auf diesem Paradigma – man könnte sagen, dass die Kirche die maßgebliche traditionelle Organisation der westlichen Welt war. Die ersten großen Unternehmen der industriellen Revolution arbeiteten nach diesem Schema. Traditionelle Organisationen gibt es auch heute noch: Die meisten Regierungsorganisationen, öffentlichen Schulen, religiösen Institutionen und das Militär werden nach konformistischen Prinzipien und Praktiken geführt.
Der erste Durchbruch traditioneller Organisationen: eine langfristige Perspektive (stabile Prozesse)
Tribale Organisationen sind sehr opportunistisch, sie richten ihre Aufmerksamkeit in der Regel nur auf die nächste Gelegenheit im Rahmen von Tagen oder Wochen. Traditionelle Organisationen können langfristige Projekte verfolgen – sie bauen Kathedralen, deren Fertigstellung zwei Jahrhunderte in Anspruch nimmt, oder sie schaffen ein Netzwerk kolonialer Handelsposten, die viele tausend Kilometer voneinander entfernt liegen, um Handelsgewinne zu erzielen.
Dieser Durchbruch ist sehr stark mit der Erfindung von Prozessen verbunden. Durch Prozesse können wir Erfahrungen der Vergangenheit in der Zukunft wiederholen. Die Ernte dieses Jahres wird unser Schema für die Ernte des nächsten Jahres sein; die Schulklasse wird nächstes Jahr mit dem gleichen Lehrplan unterrichtet werden wie dieses Jahr. Durch Prozesse hängt das notwendige Wissen nicht mehr von einer bestimmten Person ab; es wird in die Organisation aufgenommen und kann über Generationen hinweg weitergegeben werden. Jede Person kann von einer anderen ersetzt werden, welche die gleiche Rolle in diesem Prozess einnimmt. Selbst der Leiter ist in einer geordneten Nachfolge ersetzbar, weshalb traditionelle Organisationen jahrhundertelang überleben können.
Auf individueller Ebene suchen Menschen, die in einem traditionellen konformistischen Paradigma leben, nach Ordnung und Vorhersehbarkeit; Veränderung wird mit Argwohn betrachtet. Das Gleiche gilt für traditionelle Organisationen, die besonders für stabile Kontexte angemessen sind, wo die Zukunft aufgrund vergangener Erfahrungen geplant werden kann. Sie folgen der verborgenen Annahme, dass es eine richtige Handlungsweise gibt und die Welt unveränderlich ist (oder sein sollte). Wenn sich der Kontext verändert und die Art und Weise, wie wir es hier schon immer gemacht haben, nicht mehr funktioniert, dann fällt es traditionellen Organisationen schwer, die Notwendigkeit von Veränderung zu akzeptieren. Die Idee, dass es einen richtigen Weg des Handelns 20gibt, erschwert traditionellen Organisationen die Konkurrenz. Historisch gesehen strebten sie immer nach Dominanz und dem Monopol, deshalb betrachten traditionelle Organisationen Konkurrenz mit Argwohn.
Der zweite Durchbruch traditioneller Organisationen: Größe und Stabilität (formelle Hierarchien)
In tribalen Organisationen sind die Machtstrukturen in ständigem Fluss und die Menschen kämpfen um Einfluss. Traditionelle Organisationen bringen Stabilität in die Machtstrukturen, es gibt formelle Titel, feste Hierarchien und Organigramme. Die allgemeine Struktur wird zu einer stabilen Pyramide mit einer Kaskade formeller Kommunikationswege von den Mächtigen zu den Untergebenen. Unter dem Papst gibt es Kardinäle, darunter sind die Erzbischöfe; unter ihnen wiederum die Bischöfe; und dann kommen die Priester. Der Fabrikmanager überschaut die Abteilungsleiter, diese wiederum die Bereichsleiter, diese die Fachbereichsleiter, diese die Vorarbeiter und diese schließlich die Maschinenarbeiter. Die persönliche Treue des Kriegers zum Anführer ist nicht länger nötig; der einfache Arbeiter hat seinen Platz in der Hierarchie gefunden. Selbst wenn der Papst schwach ist, wird ein Priester nicht versuchen, ihn zu stürzen und seinen Platz einzunehmen. So werden viel größere Organisationen möglich, die nicht nur Hunderte, sondern Tausende von Mitarbeitern umfassen, die über weite Entfernungen zusammenarbeiten können. Die ersten globalen Organisationen der Menschheit – von der katholischen Kirche bis zur britischen Ostindien-Kompanie – wurden nach einem konformistischen Schema strukturiert.
Warum muss ich jedes Mal, wenn ich zwei Hände zum Arbeiten brauche, auch noch das Gehirn mitdazunehmen?
Henry Ford
Die Planung und Ausführung sind strikt getrennt: das Denken geschieht oben, das Tun unten. Die Entscheidungen, die oben gefällt werden, gelangen durch aufeinanderfolgende Managementebenen nach unten. Die ständige Bedrohung durch Gewalt von oben, die in den tribalen Organisationen vorhanden war, weicht subtilen und verfeinerten Kontrollmechanismen. Es wird ein ganzer Katalog von Regeln formuliert. Einige Mitarbeiter werden damit beauftragt, die Befolgung dieser Regeln zu überprüfen und Disziplinarmaßnahmen und Strafen zu verhängen, wenn sie gebrochen werden. Wenn Sie zu spät zur Arbeit erscheinen, wird Ihnen der Lohn gekürzt. Wenn Sie ein zweites Mal zu spät kommen, werden Sie vielleicht einen Tag lang beurlaubt. Beim nächsten Mal kann es schon Ihre Entlassung bedeuten.
Die darunterliegende Weltsicht besagt, dass Arbeiter meist faul und unehrlich sind und deshalb klare Vorgaben brauchen. Sie müssen kontrolliert werden und man muss ihnen sagen, was von ihnen erwartet wird. Partizipatives Management erscheint aus einer konformistischen Perspektive dumm; das Management muss Anweisung und Kontrolle nutzen, um Resultate zu erreichen. Die Arbeitsplätze in der Produktion haben eine enge Aufgabenbeschreibung und basieren auf Routine. Innovation, kritisches Denken und Selbstausdruck sind nicht wichtig (und werden oft als hinderlich gesehen). Information wird nur 21geteilt, wenn es nötig ist. Menschen sind im Grunde austauschbare Ressourcen; individuelle Talente werden nicht erkannt und entwickelt.
Aus Sicht späterer Entwicklungsstufen könnte dies als starke Eingrenzung erscheinen. Aber als ein Schritt aus dem tribalen Bewusstsein heraus ist es ein großer Fortschritt. Selbst für die Menschen am Boden der Organisation, die für Routinearbeiten zuständig sind, fühlt es sich zutiefst befreiend an. In tribalen Organisationen müssen die Menschen – jeden Tag – darum kämpfen, ihre Belange zu schützen (und ihr Überleben zu sichern): vor ihren Anführern, den anderen Mitgliedern auf gleicher Ebene der Organisation und denen, die weniger Macht haben. Im Gegensatz dazu erscheint die Ordnung und Vorhersehbarkeit der traditionellen Organisationen wie ein sicherer Hafen. Wir müssen nicht länger nach Bedrohungen und Gefahren Ausschau halten, die unerwartet aus jeder Richtung auf uns zukommen können. Wir müssen einfach nur die Regeln befolgen.
Tribale Organisationen sind wie Wolfsrudel. Bei traditionellen Organisationen wandelt sich die Metapher: Eine gute Organisation sollte wie eine Armee geführt werden. In einer rigiden Hierarchie muss es eine eindeutige Befehlskette, formelle Prozesse und klare Regeln geben, womit festgelegt wird, wer welche Aufgabe hat. Von den einfachen Arbeitern am Boden der Pyramide wird erwartet, dass sie die Befehle genau befolgen und keine Fragen stellen, um dafür zu sorgen, dass das Bataillon in guter Ordnung marschiert.
Die soziale Maske
In traditionellen konformistischen Organisationen werden Wachstum und Stabilität möglich, weil die Menschen damit zufrieden sind, in ihrer Rolle zu bleiben und nicht nach Höherem streben. Menschen, die auf dieser Bewusstseinsstufe leben, identifizieren sich mit ihren Rollen, mit ihrem bestimmten Platz in der Organisation. Traditionelle Organisationen haben die Nutzung von Titeln, Rangordnungen und Uniformen erfunden und allgemein angewendet, um die Identifikation mit einer Rolle zu verstärken. Die Bischofsrobe zeigt an, dass es sich nicht um einen einfachen Priester handelt. Die Uniform eines Generals unterscheidet sich schon von weitem von der eines Leutnants oder Gefreiten. Bis heute trägt in Fabriken der Eigentümer, der Ingenieur, der Buchhalter, der Vorarbeiter und der Maschinenarbeiter meist eine andere Kleidung. Wenn wir unsere Kleidung anziehen, nehmen wir auch eine bestimmte Identität an, eine soziale Maske. Wir verinnerlichen Verhaltensweisen, die von Menschen unseres Ranges und unserer Arbeitsaufgabe erwartet werden. Als Arbeiter trage ich nicht nur eine andere Uniform als der Ingenieur. Ich esse in der Arbeiterkantine; er isst im Fabrikrestaurant. Und an diesen Orten unterscheiden sich auch die Gesprächsthemen, die Witze und die Form der Selbstoffenbarung. Die soziale Stabilität hat den Preis, dass wir eine Maske tragen, indem wir lernen, uns von unserem einzigartigen Wesen und unseren persönlichen Wünschen, Bedürfnissen und Gefühlen zu distanzieren. Stattdessen leben wir ein sozial akzeptiertes Selbst.
In der Geschichte ging diese hierarchische Aufteilung in Organisationen mit einer sozialen Aufteilung einher: Die Priester kamen aus dem Bauernstand und 22die Bischöfe und Kardinäle aus dem Adel. Die Schichtung in den Organisationen hatte große Lücken – ein Mann (bei Frauen noch verstärkter), der in die Arbeiterklasse geboren wurde, konnte nicht in eine Managementposition aufsteigen. Glücklicherweise ist diese rigide soziale Ordnung in modernen Gesellschaften verschwunden. Aber die heutigen traditionellen Organisationen folgen weiterhin oft dieser hierarchischen Schichtung, obwohl es in subtilerer Weise geschieht. In Regierungsorganisationen, Schulen und beim Militär braucht man für bestimmte höhere Positionen immer noch ein spezielles Diplom oder eine festgesetzte Anzahl von Dienstjahren. Die Beförderung kann diejenigen, die am besten qualifiziert sind, umgehen, und demjenigen zugedacht werden, der die richtigen Kriterien erfüllt.
Wir gegen die anderen
Soziale Zughörigkeit ist beim traditionellen konformistischen Paradigma entscheidend. Man ist Teil der Gruppe oder nicht – es ist die Haltung „wir“ gegen „die anderen“. Diese Trennlinie findet sich auch innerhalb traditioneller Organisationen – zwischen Krankenpflegepersonal, Ärzten und Verwaltungsangestellten, Leitung und Personal, Marketing und Finanzen, Filialen und Headquarter, öffentlichen und privaten Schulen usw. Um innere Konflikte in der Gruppe zu vermeiden, wird die Schuld für Probleme und Fehler meist bei anderen gesucht. Traditionelle Organisationen haben genau abgegrenzte Nischen und die verschiedenen Gruppen beäugen sich mit Misstrauen. In traditionellen Organisationen wird versucht, Vertrauen durch Kontrolle wiederherzustellen – es werden Verhaltensweisen bestimmt, an die sich die Menschen in verschiedenen Gruppen oder Nischen halten müssen.
Innerhalb der Organisation gibt es Barrieren, aber zwischen der Organisation und der Außenwelt verläuft ein Graben. Traditionelle Organisationen versuchen unter allen Umständen, unabhängig und autonom zu bleiben – man sollte auf die Außenwelt nicht angewiesen sein. Die ersten Automobilwerke hatten ihre eigenen Kautschukplantagen und Stahlwerke, betrieben eigene Bäckereien und boten Sozialwohnungen. Die Mitarbeiter „gehören“ der Organisation: Es wird eine lebenslange Beschäftigung erwartet und ein großer Teil des sozialen Lebens der Mitarbeiter dreht sich um die Organisation. Die Möglichkeit einer Kündigung enthält also zwei Gefahren: Die Mitarbeiter riskieren den Verlust der Identität, die ihnen die Arbeit gibt, und die soziale Eingebundenheit, in der sie leben. Wenn sich jemand dafür entscheidet, die Organisation zu verlassen, wird ihm oft Unverständnis entgegengebracht oder es wird ihm gar Verrat vorgeworfen. In abgeschwächter Form gilt auch bei den heutigen traditionellen Organisationen – Regierungsorganisationen, religiösen Institutionen, öffentlichen Schulen und dem Militär – die lebenslange Beschäftigung als implizite oder explizite Norm. Auch hier dreht sich für viele Mitarbeiter das soziale Leben größtenteils um ihr Arbeitsleben. Für diejenigen, die in traditionellen Organisationen unzufrieden sind und sie verlassen, beginnt oft ein schmerzlicher Prozess – in etwa so, als ob man ein altes Leben ablegt und ein neues Leben erfinden muss.
23Das moderne leistungsorientierte Paradigma (Orange)[8]
Auf der modernen leistungsorientierten Bewusstseinsstufe zeigt die Welt ein anderes Gesicht. Wir sehen die Welt nicht mehr als stabiles Universum, dass durch unveränderliche Regeln bestimmt wird, sondern als komplexes Uhrwerk, dessen innere Mechanismen und natürlichen Gesetze untersucht und verstanden werden können. Es gibt kein absolutes richtig oder falsch, es gibt nur Dinge, die besser funktionieren als andere. Effektivität ersetzt die Moral als den Maßstab für die Entscheidungsfindung: Je besser ich verstehe, wie die Welt funktioniert, desto mehr kann ich erreichen; die beste Entscheidung ist diejenige, die die besten Ergebnisse bringt. Das Ziel im Leben besteht darin, besser als andere zu sein, in sozial akzeptierter Weise erfolgreich zu sein und die Karten, die uns gegeben sind, bestmöglich auszuspielen.
Die kognitive Veränderung bei diesem Paradigma wird in einem weiteren Experiment Jean Piagets gut beschrieben und hier von Ken Wilber wiedergegeben:
Die Testperson erhält drei Gläser mit farbloser Flüssigkeit, mit der Information, dass sie in einer Weise gemischt werden können, sodass eine gelbe Flüssigkeit entsteht. Die Testperson wird dann gebeten, die gelbe Flüssigkeit herzustellen. Kinder mit einer konkret-operationalen Kognition [Piagets Bezeichnung für die Kognition auf der traditionellen Ebene] werden die Flüssigkeiten einfach wahllos miteinander mischen. Heranwachsende mit einer formal-operationalen Kognition [die Kognition auf der modernen Ebene] werden erst ein allgemeines Bild davon formen, dass man Glas A mit Glas B, dann Glas A mit Glas C und dann Glas B mir Glas C mischt. Wenn man nachfragt, sagen sie in etwa: „Naja, ich muss doch die verschiedenen Kombinationen nacheinander ausprobieren.“
Das bedeutet, dass der Mensch sich hier verschiedene mögliche Welten vorstellen kann. Zum ersten Mal können „Was wäre wenn“ und „Als ob“ verstanden werden. Dadurch eröffnen sich viele idealistische Möglichkeiten. Wir können uns vorstellen, wer wir sein werden! Die Pubertät ist nicht nur deshalb solch eine wilde Zeit, weil die Sexualität aufkeimt, sondern weil im geistigen Auge mögliche Welten entstehen – es ist die Zeit von „Verstand und Revolution“.[9]
Durch diese kognitive Fähigkeit können wir Autoritäten, Gruppennormen und den althergebrachten Status quo hinterfragen. In der westlichen Welt begann das moderne Denken während der Renaissance, die traditionelle Welt der christlichen Gewissheiten zu erschüttern. Zunächst war es nur eine kleine Minderheit, die dieses Denken anwandte, vor allem Wissenschaftler und Künstler. Mit der Aufklärung und der industriellen Revolution erschien das moderne Denken in größerem Ausmaß in gebildeten Kreisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bewegte sich ein signifikanter Anteil der Bevölkerung in der westlichen Welt zum modernen leistungsorientierten Paradigma. Heute ist die moderne Weltsicht wahrscheinlich die dominierende Perspektive bei den meisten Führungskräften in Wirtschaft und Politik.
Die moderne Kognition hat die Schleusen für wissenschaftliche Untersuchung, Innovation und Unternehmertum geöffnet. In einer Zeitspanne von nur zwei Jahrhunderten – ein Augenzwinkern in der Geschichte unserer Spezies – hat 24uns dieses Paradigma ein nie da gewesenes Ausmaß von Wohlstand gebracht. Unsere Lebenserwartung erhöhte sich um einige Jahrzehnte und Seuchen und Hungersnöte konnten in der industrialisierten Welt weitgehend überwunden werden, und heute ereignet sich dieses Wunder auch in den aufstrebenden Entwicklungsländern.
Jedes Paradigma hat von einer höheren Ebene aus gesehen auch seine Schattenseiten. Die dunkle Seite des modernen leistungsorientierten Paradigmas kann man heute nur schwer ignorieren: die Gier der Unternehmen, kurzfristige Politik, Überschuldung, übermäßiger Konsum und die schonungslose Ausbeutung der Ressourcen und Ökosysteme des Planeten. Aber dies sollte nicht die enorme Befreiung verdecken, die diese Stufe uns gebracht hat. Durch sie konnten wir die Vorstellung hinter uns lassen, dass eine Autorität die richtige Antwort hat (stattdessen vertraut sie auf Expertenwissen, um Einsichten in die komplexen Mechanismen der Welt zu erlangen) und sie bringt eine gesunde Dosis Skepsis gegenüber offenbarten Wahrheiten mit sich. Zum ersten Mal können wir selbst die Wahrheit untersuchen, ohne ein religiöses Dogma oder eine politische Autorität zu fürchten und ohne unser Leben zu riskieren. Wir wurden in die Lage zu versetzt, die Dinge zu hinterfragen und aus den Bedingungen, in die wir geboren wurden, herauszutreten. Wir können uns aus den Verhaltensweisen und Gedanken, die unser Geschlecht und unsere soziale Klasse uns in früherer Zeit vorgegeben hätten, befreien. Die tribale Perspektive (Rot) war egozentrisch, die traditionelle Weltsicht (Bernstein) ethnozentrisch, aber mit dem modernen Paradigma (Orange) eröffnet sich die Möglichkeit einer weltzentrischen Perspektive.
Aus einer modernen Perspektive sollten Individuen die Freiheit besitzen, ihre Lebensziele zu verfolgen, und die Besten in einem bestimmten Bereich sollten aufsteigen können. In der Praxis dekonstruiert das moderne leistungsorientierte Paradigma die traditionelle konformistische Weltsicht nicht so gründlich, wie es das zugrunde liegende Denken verspricht. Da die Menschen das Bedürfnis haben, als sozial erfolgreich angesehen zu werden, sind sie bereit, soziale Konventionen anzunehmen, wenn sie hilfreich sind. Die Erfolgreichen unter ihnen greifen in der Regel gern auf Formen der sozialen Schichtung zurück – sie wohnen in privilegierten Gegenden, werden Mitglied in exklusiven Klubs und lassen ihre Kinder auf teure Privatschulen gehen. Die Menschen, die aus der modernen Perspektive leben, stehen religiösen Geboten meist ablehnend gegenüber; aber viele, die keinen persönlichen Glauben haben, bleiben einer Religion zugehörig, wenn es sozial von Vorteil ist. (Und auch als Absicherung, falls die Offenbarung doch wahr sein sollte.)
Die Weltsicht dieser Stufe ist durch und durch materialistisch – nur was man sehen und berühren kann, ist real. Das moderne Paradigma misstraut jeder Form von Spiritualität und Transzendenz, weil es Menschen hier schwerfällt, etwas zu glauben, das empirisch nicht bewiesen oder beobachtet werden kann. Unbelastet von tiefen seelischen Fragen erreicht unser Ego auf dieser Stufe den Gipfel seiner Dominanz, während es zum Garant für all unsere Hoffnungen auf Leistung und Erfolg wird. In dieser materiellen Welt wird mehr meist als besser verstanden. Wir leben unser Leben in der Annahme, dass uns das Erreichen des nächsten Zieles (die nächste Beförderung, der Lebenspartner, ein neues Haus 25oder ein neues Auto) glücklich machen wird. In der modernen Perspektive leben wir im Grunde in der Zukunft, vollkommen beschäftigt mit Selbstgesprächen über die Dinge, die wir noch tun müssen, um unsere Ziele zu erreichen. Wir kommen kaum in den gegenwärtigen Moment zurück, wo wir die Geschenke und die Freiheit wertschätzen können, die wir durch den Übergang in das moderne Paradigma erlangt haben.
Moderne Organisationen
Straßengangs und Mafiabanden sind gegenwärtige Beispiele für tribale Organisationen. Die katholische Kirche, das Militär und öffentliche Schulen sind Archetypen für traditionelle Organisationen. Globale Unternehmen sind die Verkörperung moderner Organisationen. Wenn wir eine der weltbekannten Marken genauer anschauen – z. B. Walmart, Nike oder Coca Cola –, dann sehen wir wahrscheinlich eine Organisation, deren Strukturen, Praktiken und Kulturen von der modernen leistungsorientierten Weltsicht inspiriert sind.
Die Effektivität traditioneller Organisationen stellt alles in den Schatten, was man sich in tribalen Organisationen nur vorstellen kann. Die modernen Organisationen eröffnen aber noch eine völlig neue Ebene der Wirksamkeit und können weit umfangreichere Ergebnisse erzielen. Der Grund dafür sind die drei weitere Durchbrüche, die hier ihre Wirkung entfalten: Innovation, Verlässlichkeit und Leistungsprinzip.
Der erste Durchbruch moderner Organisationen: Innovation
Wie das Experiment Piagets mit der Mischung der Flüssigkeiten zeigt, können Menschen, die im modernen Paradigma leben, die Welt der Möglichkeiten erfahren – das, was es noch nicht gibt, was aber in Zukunft möglich sein könnte. Sie können den Status quo hinterfragen und Vorschläge formulieren, wie man ihn verbessern kann. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Führungskräfte moderner Organisationen nicht müde werden zu erklären, dass Veränderung und Innovation keine Gefahren sind, sondern Gelegenheiten. Gemeinsam haben moderne Organisationen eine Zeit geprägt, die von nie da gewesener Innovation gekennzeichnet war und zu dem massiven Anwachsen des Wohlstandes in den letzten beiden Jahrhunderten geführt hat. In diesen Organisationen wurden Abteilungen gebildet, die es in traditionellen Organisationen nicht gab (und die auch heute in diesen Organisationen meist nicht vorhanden sind): Forschung und Entwicklung, Marketing und Produktmanagement. Traditionelle Organisationen werden vollkommen durch Prozesse bestimmt, während bei modernen Organisationen Prozesse und Projekte im Mittelpunkt stehen.
Moderne Organisationen behalten die Pyramide als ihre Grundstruktur, aber sie öffnen die Grenzen einer festen funktionalen und hierarchischen Aufteilung, um die Kommunikation zu beschleunigen und Innovation zu unterstützen, z. B. durch Projektgruppen, virtuelle Teams, funktionsübergreifende Initiativen, Expertenfunktionen und interne Berater.
26Der zweite Durchbruch moderner Organisationen: Verlässlichkeit
Wenn ich einem Minister einen Auftrag gebe, dann überlasse ich es ihm, wie er ihn ausführt.
Napoleon Bonaparte
Im Führungs- und Managementstil ereignet sich eine subtile aber tief greifende Veränderung. Aus Befehl und Kontrolle traditioneller Organisationen wird das Vorhersehen und Kontrollieren moderner Organisationen. Um schneller als andere Innovationen hervorzubringen, wird es zu einem Konkurrenzvorteil, wenn man die Intelligenz vieler Mitarbeiter nutzen kann. Deshalb braucht es Räume, in denen größere Teile der Organisationen ihren eigenen Weg finden können, sie müssen ermutigt werden und das nötige Vertrauen bekommen, damit sie Projekte eigenständig konzipieren und durchführen können. Dies wird durch ein Management nach Zielvorgaben erreicht. Das leitende Management formuliert eine allgemeine Ausrichtung und leitet dementsprechend Zielvorgaben und Meilensteine an untergeordnete Abteilungen weiter, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. In gewissem Maße ist es den Vorgesetzten egal, wie diese Ziele erreicht werden, solange sie erfüllt werden. Dieser Ansatz hat die Bildung einer ganzen Reihe von Managementprozessen ausgelöst, die heute sehr verbreitet sind, um Zielvorgaben zu definieren (Voraussehen) und zu erfüllen (Kontrollieren): Strategieplanung, mittelfristige Planung, jährliche Budgetzyklen, Leitungskennzahlen (KPIs) oder Balanced Scorecards (BSCs). In der modernen leistungsorientierten Weltsicht werden die Menschen durch materiellen Erfolg motiviert. Somit verwundert es nicht, dass moderne Organisationen eine ganze Anzahl von finanziellen Anreizen geschaffen haben, um die Mitarbeiter zum Erreichen festgesetzter Ziele zu motivieren; dazu gehören Leistungsbewertung, Bonussysteme, Auszeichnungen und Aktienanteile. Etwas vereinfacht gesagt, verlassen sich traditionelle Organisation auf die Peitsche, während moderne Organisationen ganz auf das Zuckerbrot setzen.
Der Durchbruch in der Freiheit des Einzelnen ist jedoch real. Die Manager und Mitarbeiter bekommen den Raum, um ihre Kreativität und Talente auszuleben und können selbst herausfinden, wie sie ihre Ziele erreichen wollen, wodurch die Arbeit weitaus interessanter werden kann. Und wenn die Anreize gut implementiert sind (wenn also die Ziele des Mitarbeiters und der Organisation übereinstimmen), kann die oft konfliktreiche Beziehung zwischen Mitarbeitern und Führungskräften etwas harmonischer werden, weil sie Ziele verfolgen, die beiden zugutekommen.
Die Erfahrung zeigt, dass moderne Organisationen dieses Versprechen eines Managements nach Zielvorgaben nicht immer erfüllen. Die Ängste des Egos unterminieren oft die guten Absichten. Nehmen wir beispielsweise die Idee, dass Entscheidungen nach unten verlagert werden, um Innovation und Motivation zu verstärken: Für Führungskräfte, die einem modernen leistungsorientierten Paradigma folgen, ist das vollkommen verständlich. Aber in der Praxis siegt bei Führungskräften oft die Angst, die Kontrolle abzugeben, über ihre Fähigkeit, Mitarbeitern zu vertrauen, weshalb weiterhin die Entscheidungen oben getroffen werden, die bei Mitarbeitern weiter unten in der Hierarchie besser aufgehoben wären.
27Oder betrachten wir die Budgetprozesse, durch welche die Zielvorgaben der Mitarbeiter festgelegt werden. Dies ist ein wichtiges Mittel, um den Mitarbeitern Raum für eigene Entscheidungen zu geben, das als Prinzip sehr einleuchtend ist. Aber jeder, der schon einmal solch einen Prozess durchlaufen hat, weiß, wie schnell sie auseinanderfallen. Wenn das leitende Management die Abteilungsleiter darum bittet, ihr Budget vorzulegen, dann wird oft ein Spiel gespielt, das Tiefstapeln genannt wird – sie versuchen die niedrigsten Zielvorgaben zu erreichen, damit sie sicher sein können, diese Ziele auch zu erreichen und ihre Boni einzustreichen. Wenn die Ergebnisse nicht gut genug sind, dann legt das Topmanagement willkürlich höhere Zielvorgaben fest (wobei sie sicher gehen, dass sie höher ausfallen als die Versprechungen an die Aktionäre, um sicher zu gehen, dass auch sie ihre Boni bekommen), die die Mitarbeiter weiter unten in der Hierarchie dann akzeptieren müssen. Statt offenen Diskussionen darüber, was machbar ist und was nicht, geben die Mitarbeiter einander Tabellen mit fiktiven Vorhersagen, die von der Angst getrieben sind, dass sie die Vorgaben nicht erfüllen werden. Dabei verfehlen Budgets ihre eigentliche Aufgabe: bei den Mitarbeiter die Eigenverantwortung und Motivation zu fördern, die geplanten Ergebnisse auch zu erreichen.
Der dritte Durchbruch moderner Organisationen: Leistungsprinzip
Moderne Organisationen nutzen die revolutionäre Prämisse des Leistungsprinzips. Das bedeutet im Grunde, dass jeder aufsteigen und niemand sicher sein kann, seine Position zu behalten. Wer in der Poststelle anfängt, kann Geschäftsführer werden – selbst als Frau oder als Angehöriger einer Minderheit. Das erweitert den Talent Pool immens, denn niemand wird von vornherein ausgeschlossen. Das beherrschende Denken dabei ist, dass jeder Mensch die Gelegenheit haben sollte, sein Talent zu entwickeln, und jeder sollte Teil des Organigramms sein, um bestmöglich zum Ganzen beitragen zu können. Der Übergang von der Schichtung traditioneller Organisationen zum Leistungsprinzip moderner Organisationen hat die Personalentwicklung und die damit verbundenen Prozesse und Praktiken ins Leben gerufen, dazu gehören Leistungsbeurteilungen, Anreizsysteme, Ressourcenplanung, Talentmanagement, Leadership-Training und Nachfolgeplanung (Succession Planning).
Die historische Bedeutung der Idee des Leistungsprinzips kann man kaum überbetonen. Es ist ein Durchbruch in der sozialen Fairness. Es gibt den Menschen zumindest prinzipiell die Möglichkeit, den Beruf zu wählen, der zu den eigenen Talenten und Zielen passt. Dabei lassen viele Menschen die Idee einer lebenslangen Beschäftigung bei einem Arbeitgeber, die auf der vorhergehenden Stufe so wichtig war, hinter sich. Die Menschen übernehmen die Verantwortung, ihre Karriere selbst zu gestalten, und wechseln alle paar Jahre die Position, sei es in einer Organisation oder wenn nötig auch in verschiedenen Unternehmen.
Das Leistungsprinzip macht auch zum großen Teil die Symbole der hierarchischen Schichtung überflüssig. Die obligatorischen Uniformen, die den entsprechenden Rang anzeigten, werden durch einheitlichere Businessanzüge ersetzt. Weil die Menschen im Laufe ihrer Karriere oft die Position wechseln, wird die traditionelle Verschmelzung der Identität mit dem Rang und der Position in der 28Pyramide geschwächt. Stattdessen tragen die Menschen eine professionelle Maske. Man muss immer glaubwürdig wirken: beschäftigt sein, aber gelassen, kompetent und dabei die Situation unter Kontrolle haben. Rationalität genießt das höchste Ansehen; Emotionen, Zweifel, Träume werden am besten hinter einer Maske verborgen, damit man sich nicht verletzlich macht. Die Identität ist nicht mehr mit dem Rang oder Titel verschmolzen, stattdessen ist sie mit unserem Bedürfnis verbunden, als kompetent, erfolgreich und bereit für die nächste Beförderung gesehen zu werden.
In meiner Philosophie muss man, um erfolgreich zu sein, ständig das Bild des Erfolges im Sinn haben.
Buddy Kane, der „König der Immobilienmakler“ im Film American Beauty
An den meisten Arbeitsplätzen sind zwar die alten Uniformen außer Mode gekommen, die Statussymbole jedoch nicht. Leitende Manager haben große Büros, reservierte Parkplätze, reisen erster Klasse und erhalten großzügige Aktienoptionen – während die einfachen Angestellten zweiter Klasse reisen und in kleinen Büronischen sitzen. Solche Vergünstigungen sind mit dem Leistungsprinzip vereinbar: Die Top-Manager haben den größten Einfluss auf den Erfolg der Organisation, deshalb muss man ihnen die Mittel geben, um erfolgreich zu sein. Zudem verdienen sie es. Wenn man klug ist und hart genug arbeitet, kann jede und jeder diese Vorteile genießen.
Organisationen als Maschinen
Die moderne leistungsorientierte Weltsicht sieht Organisationen als Maschinen – eine Perspektive, die aus der reduktionistischen Wissenschaft und dem Industriezeitalter kommt. Die maschinelle Sprache, die wir nutzen, um über Organisationen zu sprechen, zeigt, wie tief (wenn auch meist unbewusst) diese Metapher in der Welt heute noch wirksam ist. Wir sprechen von Einheiten und Schichten, von Input und Output, Effizienz und Effektivität, den besten Ansatzpunkt finden oder das Projekt anschieben, beschleunigen und auf die Bremse treten, Probleme angehen und Lösungen skalieren, Informationsflüsse und Engstellen, Re-Engineering und Downsizing. Führungskräfte und Berater designen Organisationen. Menschen sind Ressourcen, die sorgfältig mit dem Organigramm in Übereinstimmung gebracht werden müssen, in etwa so wie Zahnräder in einer Maschine. Veränderungen müssen geplant, in Entwürfen ausgearbeitet und dann laut Plan implementiert werden. Wenn Teile der Maschinerie nicht im angestrebten Rhythmus funktionieren, dann ist es wahrscheinlich an der Zeit für eine „weiche“ Intervention – das gelegentliche „Team-Building“ – so als würde man Öl auf die Zahnräder tröpfeln, damit sie besser laufen.
Die Metapher der Maschine klingt zwar unpersönlich, zeigt aber auch die dynamische Natur moderner Organisationen (im Vergleich zu traditionellen Organisationen, die oft mit rigiden, unveränderlichen Regeln und Hierarchien arbeiten). In modernen Organisationen ist Raum für Energie, Kreativität und Innovation. Gleichzeitig deutet die Metapher der Maschine darauf hin, dass sich diese Organisationen, auch wenn sie vor Aktivität nur so sprudeln, so anfühlen können, als wären ihnen Leben und Seele verloren gegangen.
29Jedes Paradigma hat einen entsprechenden Führungsstil, der zur entsprechenden Weltsicht passt. Die tribale impulsive Weltsicht ruft nach rücksichtslosen Führern; die traditionelle konformistische Weltsicht zeigt sich in patriarchalischen Autoritäten. Die moderne leistungsorientierte Weltsicht sieht Führung aus einer technischen Perspektive. Führung auf dieser Stufe ist in der Regel zielgerichtet, auf die Lösung greifbarer Probleme fokussiert und setzt Aufgaben über Beziehungen. Sie schätzt eine kühle Rationalität und meidet Emotionen; Fragen des Sinns und der Bedeutung erscheinen deplatziert.
Die Schattenseiten der modernen Weltsicht
Wie bei jedem Paradigma geht mit mehr Licht auch ein größerer Schatten einher. Eine Schattenseite moderner Organisationen ist „Innovation außer Kontrolle“. Wenn unsere Grundbedürfnisse erfüllt werden, versuchen Unternehmen, immer neue Bedürfnisse zu schaffen, und nähren die Illusion, dass uns mehr Dinge, die wir nicht wirklich brauchen – mehr Besitz, die neueste Mode, ein jung aussehender Körper –, glücklich und zufrieden machen. Immer deutlicher erkennen wir, dass diese Wirtschaft, die auf künstlich geschaffenen Bedürfnissen basiert, aus finanzieller und ökologischer Perspektive nicht nachhaltig ist. Wir haben eine Stufe erreicht, wo wir oft das Wachstum um des Wachstums willen anstreben, ein Zustand, den man in medizinischen Begriffen als Krebs bezeichnen würde.
Immer mehr Menschen verfügen heute über die Mittel zum Leben, aber über keinen Sinn, für den sie leben.
Viktor Frankl
Ein weiterer Schatten zeigt sich, wenn Erfolg nur nach Geld und Anerkennung gemessen wird. Wenn Wachstum und Gewinn das einzige sind, was zählt, und das Leben nur dann erfolgreich ist, wenn man die Spitze erreicht, dann werden wir früher oder später ein Gefühl der inneren Leere in unserem Leben erfahren. Die Midlife-Crisis ist ein kennzeichnendes Phänomen des Lebens in modernen Organisationen: Zwanzig Jahre lang haben wir das Spiel des Erfolgs gespielt und sind im Hamsterrad mitgelaufen. Plötzlich erkennen wir, dass wir es nicht an die Spitze schaffen werden oder dass die Spitze nicht hält, was sie verspricht. Prinzipiell kann die Arbeit in modernen Organisationen ein Mittel für Selbstausdruck und Erfüllung sein. Aber wenn sich Jahr für Jahr alles auf Zielvorgaben und Zahlen, Milestones und Deadlines, noch ein weiteres Change-Programm und eine funktionsübergreifende Initiative beschränkt, dann fragen sich manche Menschen, was eigentlich der Sinn des Ganzen ist und sehnen sich nach etwas anderem.
Angesichts der Skandale in der Wirtschaftswelt in den letzten zehn Jahren würden einige Beobachter noch hinzufügen, dass die individuelle und kollektive Gier eine der offensichtlichsten Schattenseiten moderner Organisationen ist. Vorstände geben sich immer höhere Gehälter; arbeiten mit einer starken Lobby, um Gesetze zu ihrem Vorteil zu beeinflussen; bestechen Aufsichtsbehörden; tricksen Regierungen aus, um niedrige oder keine Steuern zu zahlen; fusionieren so schnell und umfassend wie möglich, um ihre Industriezweige zu dominieren; und missbrauchen ihre Machtposition gegenüber den Zulieferern, Kunden und Angestellten.
30Das postmoderne pluralistische Paradigma (Grün)[10]
Das moderne leistungsorientierte Paradigma ersetzt die absolute Wahrheit von richtig und falsch der traditionellen Weltsicht mit einem neuen Standard: was funktioniert und was nicht funktioniert. Das postmoderne pluralistische Paradigma ist der Ansicht, dass diese Idee immer noch zu stark vereinfacht ist. Das Leben besteht aus mehr als Erfolg und Scheitern. Die postmoderne Weltsicht ist sich der Schatten, die das moderne Paradigma auf Menschen und die Gesellschaft wirft, sehr bewusst: die materialistische Obsession, die soziale Ungerechtigkeit und der Verlust von Gemeinschaft.
Die postmoderne pluralistische Weltsicht hat eine hohe Sensibilität für die Gefühle der Menschen. Sie besteht darauf, dass alle Perspektiven den gleichen Respekt verdienen. Sie sucht Fairness, Gleichheit, Harmonie, Gemeinschaft, Kooperation und Konsens. Das Selbst, das aus dieser Perspektive lebt, strebt nach Zugehörigkeit und möchte enge und harmonische Beziehungen mit allen Menschen bilden. Die moderne Weltsicht versprach eine weltzentrische Haltung; die postmoderne Weltsicht möchte dieses Versprechen nun einlösen. Individuen sollten in der Lage sein, aus dem Gefängnis konventioneller Rollen auszubrechen, zudem soll aber das ganze Gebäude der Kasten und sozialen Klassen, des Patriarchats und der institutionellen Religionen und andere Strukturen zum Einsturz gebracht werden. In den industrialisierten Ländern begannen im späten 18. und 19. Jahrhundert kleine Kreise von Menschen, die eine postmoderne pluralistische Weltsicht entwickelt hatten, die Abschaffung der Sklaverei, die Befreiung der Frauen aus den ihr zugedachten Rollen, die Trennung von Staat und Kirche, die Religionsfreiheit und Demokratie voranzutreiben.
Ken Wilber beschreibt es folgendermaßen:
Mit dem Übergang zur Vernunft und zu einer weltzentrischen Moral sehen wir den Aufstieg der modernen Befreiungsbewegungen: die Befreiung der Sklaven, der Frauen, der Unberührbaren. Die Moral richtet sich nicht mehr nach dem, was für mich und meinen Stamm oder meine Mythologie oder meine Religion richtig ist, sondern was gerecht und fair für alle Menschen ist, ungeachtet ihre Rasse, ihres Geschlechts, ihrer Kaste oder ihres Glaubens.
So konnte in einer Zeitspanne von lediglich hundert Jahren, etwa von 1788 bis 1888, in allen rational-industriellen Gesellschaften der Erde die Sklaverei verboten und abgeschafft werden. Sowohl in der präkonventionellen/egozentrischen [tribalen] und der konventionellen/ethnozentrischen [traditionellen] moralischen Haltung ist die Sklaverei vollkommen akzeptabel, denn den Menschen steht nicht die gleiche Würde zu, sondern nur denjenigen, die dem eigenen Stamm, der eigenen Rasse angehören oder an den gleichen Gott glauben. Aus einer postkonventionellen Haltung ist Sklaverei einfach unrecht und nicht tolerierbar. …
Aus den gleichen Gründen wird der Aufstieg des Feminismus und der Frauenbewegung auf kultureller Ebene im Allgemeinen mit Mary Wollstonecraft im Jahre 1792 datiert, und exakt zur gleichen Zeit entstanden zahlreiche andere Befreiungsbewegungen. …
31Auch die [Demokratie] war in großem Umfang völlig neu. Die Griechen kannten diesen Universalismus nicht. Wir sollten bedenken, dass in den griechischen „Demokratien“ einer von drei Menschen Sklaven waren und Frauen und Kinder fast genauso wenig Rechte hatten wie Sklaven. Eine landwirtschaftliche Gesellschaft kann nicht die Grundlage für die Befreiung der Sklaven sein.[11]
Im späten 18. und 19. Jahrhundert gab es nur eine kleine Elite, die aus diesem postmodernen pluralistischen Paradigma lebte, aber sie hatte einen großen Einfluss auf das westliche Denken. Im 20. Jahrhundert entwickelten sich immer mehr Menschen in dieses Paradigma, und in den gegenkulturellen Bewegungen der 1960er und 1970er wurde es von einigen Menschen intensiv gelebt. Während die moderne Weltsicht heute in der Wirtschaft und Politik sehr verbreitet ist, ist die postmoderne Weltsicht im akademischen Denken, in gemeinnützigen Organisationen und unter Sozialarbeitern und Aktivisten sehr anerkannt.
Für Menschen, die aus dieser Perspektive handeln, sind Beziehungen wichtiger als Ergebnisse. Wo die moderne Weltsicht Entscheidungen von oben nach unten trifft, die auf objektiven Fakten, Expertenwissen und Simulationen basieren, strebt die postmoderne Perspektive Prozesse von unten nach oben an. Dabei werden die Standpunkte aller berücksichtigt, mit dem Ziel, die gegensätzlichen Ansichten schließlich zu einem Konsens zu bringen. Im modernen Paradigma wird ein bestimmender Führungsstil hervorgehoben, während die postmoderne Sichtweise darauf besteht, dass die Führungskräfte denen, die sie führen, dienen. Hier wird ein nobler Standpunkt eingenommen – großzügig, empathisch und aufmerksam für andere. Für die postmoderne Perspektive ist es wichtig, dass es angesichts der weiter bestehenden Ungerechtigkeit, Armut und Diskriminierung in unserer Welt mehr im Leben gibt, als das selbstbezogene Verfolgen der eigenen Karriere und des eigenen Erfolges.
Aber diese Stufe hat ihre offensichtlichen Widersprüche. Hier wird darauf bestanden, dass alle Perspektiven gleich behandelt werden, man landet aber in einer Sackgasse, wenn andere diese Toleranz missbrauchen, um intolerante Ideen zu verbreiten, und danach zu handeln. Diese brüderliche Geste der pluralistischen Haltung wird von tribaler Egozentrik, traditioneller Gewissheit und moderner Verachtung des postmodernen Idealismus nur selten erwidert. Die postmoderne Beziehung zu Regeln ist unklar und widersprüchlich: Regeln sind schlussendlich immer willkürlich und ungerecht, aber Regeln ganz abzuschaffen erweist sich als nicht praktikabel und öffnet die Tür für Missbrauch. Das postmoderne Paradigma ist wirkungsvoll beim Einreißen alter Strukturen, aber oft weniger effektiv beim Formulieren praktikabler Alternativen.
Postmoderne Organisationen
Die pluralistische Perspektive tut sich schwer mit Macht und Hierarchie. Idealerweise würde sie gern beides vollkommen vermeiden. Einige haben versucht, diesen radikalen Weg zu gehen – die traditionellen und modernen Modelle wurden über Bord geworfen, um ganz neu zu beginnen. Wenn ungleiche Machtverteilung immer darauf hinaus läuft, dass diejenigen an der Spitze die 32Menschen beherrschen, die sich ganz unten befinden, dann sollten wir Hierarchien gleich ganz abschaffen und jedem die gleiche Macht geben. Alle Arbeiter sollten zu gleichen Teilen das Unternehmen besitzen und alle Entscheidungen sollten per Konsens getroffen werden, wobei niemand eine Leitungsfunktion innehat (oder wenn es nötig ist, sollte es wechselnde Führungskräfte geben). In einigen radikalen Experimenten wurde versucht, nach diesen Leitgedanken eine neue Zukunft zu gestalten; das geschah beispielsweise in der gemeinschaftlichen Bewegung am Ende des 19. und zum Beginn des 20. Jahrhunderts (als Reaktion auf die starken Ungerechtigkeiten, die durch die industrielle Revolution entstanden) oder in den Kommunen der 1960er Jahre (die von der Gegenkultur dieser Jahre inspiriert waren). Rückblickend wissen wir, dass diese extremen Formen egalitärerer Organisationen meist nicht aufrechterhalten werden konnten – sie erreichten weder eine nennenswerte Größe, noch bestanden sie für eine längere Zeitspanne.[12] In einer großen Gruppe von Menschen zu einem Konsens zu kommen, ist ein sehr schweres Unterfangen. Fast unvermeidlich führt es zu erschöpfenden Gesprächsrunden und schließlich zu einem Stillstand. Als Folge dessen brechen hinter den Kulissen Machtkämpfe aus, durch die versucht wird, die Situation voranzubringen. Wir können uns Macht nicht einfach wegwünschen. Es ist wie bei der Hydra, wenn man ihren Kopf abschlägt, wird irgendwo ein neuer entstehen.
Extremer Egalitarismus hat sich also als eine Sackgasse erwiesen. Aber wie alle anderen Stufen hat die postmoderne Weltsicht ihre eigenen Durchbrüche hervorgebracht, die auch zu neuen Möglichkeiten für Organisationen führten. Postmoderne Organisationen haben gegenüber dem vorhergehenden modernen Modell noch drei weitere Durchbrüche ermöglicht. Einige der beliebtesten und erfolgreichsten Unternehmen der vergangenen Jahrzehnte – wie beispielsweise Southwest Airlines, Ben & Jerry’s und The Container Store (um nur einige zu nennen) – zeichnen sich durch eine pluralistische Kultur und entsprechende Praktiken aus.
Der erste Durchbruch postmoderner Organisationen: Empowerment
Postmoderne Organisationen behalten die leitungsorientierten hierarchischen Strukturen moderner Organisationen bei, geben aber die Mehrheit der Entscheidungen an die Arbeiter und Angestellten weiter, die so weitreichende Entscheidungen treffen können, ohne sich die Genehmigung des Managements einzuholen. Die Menschen, die direkt mit den Anforderungen der täglichen Arbeit zu tun haben, kennen die unzähligen kleinen Probleme im Arbeitsablauf am besten. Deshalb sollte ihnen das Vertrauen entgegengebracht werden, dass sie bessere Lösungen finden können als Experten, die aus weiter Ferne auf die Situation schauen. Das Bodenpersonal bei Southwest Airlines ist bekannt dafür, dass sie ermutigt werden, kreative Lösungen für Probleme der Passagiere zu finden, während ihre Kollegen bei anderen Fluggesellschaften sich an festgeschriebene Regeln halten müssen.
Dezentralisierung und Empowerment in einer großen Organisation zu implementieren ist schwierig. Das leitende und mittlere Management muss seine Macht mit allen Mitarbeitern teilen und einen Teil seiner Kontrolle aufgeben. Unternehmen haben bemerkt, dass sie präzise die Form der pluralistischen Führungskultur formulieren müssen, die sie von den Mitarbeitern im leitenden 33und mittleren Management erwarten, damit diese Form von Leitungsstruktur funktionsfähig ist. Pluralistische Führungskräfte sollten nicht nur distanzierte Problemlöser sein (wie auf der modernen Stufe), sondern Servant Leaders (dienende Führungskräfte), die ihren Mitarbeitern zuhören, sie ermutigen, motivieren und entwickeln. Es wird sehr viel Zeit und Mühe investiert, um angehende Führungskräfte zu Servant Leaders zu entwickeln:
- Bewerber für Managementpositionen werden eingehend auf ihre Denkweise und ihr Verhalten geprüft: Sind sie bereit, Macht mit anderen zu teilen? Werden sie mit Demut führen?
- Postmoderne Organisationen investieren oft einen überproportionalen Anteil des Ausbildungsbudgets für neu eingestellte oder beförderte Manager, um ihnen die Denkweise und die Fertigkeiten eines Servant Leader zu lehren.
- Die Manager werden aufgrund eines 360-Grad-Feedbacks beurteilt, womit die leitenden Angestellten auch gegenüber ihren Mitarbeitern rechenschaftspflichtig sind.
- In einigen innovativen Unternehmen werden Manager nicht von oben eingesetzt, sondern von unten: Die Mitarbeiter wählen ihren eigenen Chef, nachdem sie mögliche Bewerber interviewt haben.[13] Diese Praxis veranlasst die Manager, als Servant Leaders zu handeln.
Der zweite Durchbruch postmoderner Organisationen: Eine werteorientierte Kultur und eine inspirierende Sinnausrichtung
Eine starke, gemeinsame Kultur bewahrt solche dezentralen Organisationen vor dem Auseinanderfallen. Den Mitarbeitern wird das Vertrauen entgegengebracht, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen, wobei sie sich an einer Reihe gemeinsamer Werte orientieren, statt an dicken Regelbeschreibungen und Absprachen.
Kultur siegt immer über Strategie.
Peter Drucker
Einige Menschen wurden desillusioniert von der Idee gemeinsamer Werte und machen sich darüber lustig. Der Grund dafür ist, dass auch moderne Organisationen sich immer mehr verpflichtet fühlen, diesem Trend zu folgen: Sie definieren eine Reihe von Werten und produzieren Statements, die dann in den Büros und auf der Webseite platziert werden – um sie dann zu ignorieren, wenn es für den Umsatz förderlich ist. In postmodernen Organisationen, wo Führungskräfte tatsächlich gemeinsamen Werten folgen, erleben wir ungemein lebendige Kulturen, in denen sich die Mitarbeiter wertgeschätzt fühlen und ermutigt werden, ihren Teil beizutragen. Die Ergebnisse sind oft spektakulär. Forschungsstudien scheinen zu zeigen, dass die Leistungsfähigkeit werteorientierter Organisationen die ihrer Mitbewerber weit übersteigt.[14]
In vielen Fällen setzen postmoderne Organisationen eine inspirierende Sinnausrichtung ins Zentrum allen Handelns. Southwest Airlines sieht sich nicht nur als ein Unternehmen der Personenbeförderung; es wird darauf bestanden, dass man eigentlich im Wirtschaftsbereich „Freiheit“ arbeitet, wobei die Passagiere die Möglichkeit bekommen, Orte zu bereisen, die sie nur durch die 34niedrigen Tarife von Southwest erreichen können. Bei Ben & Jerry’s geht es nicht nur um Eiscreme, es geht auch um die Erde und die Umwelt.
In modernen Organisationen sind Strategie und Ausführung das Wichtigste. In postmodernen Organisationen steht die Unternehmenskultur im Zentrum. Geschäftsführer postmoderner Organisationen sagen, dass die Förderung der Kultur und der gemeinsamen Werte ihre wichtigste Aufgabe ist. Dieser Fokus auf die Kultur macht die Personalentwicklung zur entscheidenden Abteilung. Der Leiter der Personalentwicklung ist oftmals ein einflussreiches Mitglied des Leitungsteams und berät den Geschäftsführer. Er hat viele Mitarbeiter unter sich, die erhebliche Investitionen in mitarbeiterzentrierte Prozesse verteilen, dazu gehören Trainings, Kulturinitiativen, 360-Grad-Feedback, Karriereplanung und Fragebögen zur Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter.
Der dritte Durchbruch postmoderner Organisationen: Integration verschiedener Interessengruppen
Moderne Organisationen gehen davon aus, dass ein gewinnorientiertes Unternehmen auch das Interesse der Aktionäre berücksichtigen muss. Die wichtigste (für einige die einzige) Aufgabe des Managements besteht darin, maximale Profite für die Investoren zu erwirtschaften. Dabei wird oft an Adam Smiths „unsichtbare Hand“ erinnert, um zu zeigen, wie dies auf längere Sicht allen Interessengruppen nutzen wird. Postmoderne Organisationen aber bestehen darauf, dass es solch eine Hierarchie unter den Interessengruppen nicht geben sollte. Unternehmen haben nicht nur eine Verantwortung gegenüber den Investoren, sondern auch gegenüber dem Management, den Mitarbeitern, den Kunden, den Zulieferern, den lokalen Gemeinschaften, der Gesellschaft als Ganzes und der Umwelt. Die Rolle von Leadership in diesem Kontext ist es, die richtigen Kompromisse zu finden, damit alle Interessengruppen profitieren.
Jede große Organisation muss heute einen Bericht zur Corporate Social Responsibility veröffentlichen. Für postmoderne Unternehmen ist diese Sozialverantwortung ein integraler Teil des Wirtschaftens, im Gegensatz zu ihren modernen Mitbewerbern, für die solche Berichte oft eine ablenkende Verpflichtung sind. Für postmoderne Organisationen steht Sozialverantwortung meist im Zentrum ihrer Mission und spornt sie zur Innovation an und inspiriert ihr Anliegen, die Corporate Citizenship zu verbessern. Postmoderne Organisationen arbeiten mit ihren Zulieferern in Entwicklungsländern zusammen, um die lokalen Arbeitsbedingungen zu verbessern und Kinderarbeit zu verhindern. Sie versuchen, ihren Kohlendioxidausstoß und ihren Wasserverbrauch zu verringern; sie versuchen, ihre Produkte zu recyceln und die Verpackungen zu verringern. Führende in postmodernen Organisationen sagen, dass diese „Interessengruppen-Perspektive“ kurzfristig zwar höhere Kosten hervorruft, aber auf längere Sicht zu einem besseren Ergebnis für alle Beteiligten führen wird, einschließlich der Aktionäre.
Familie ist die weitverbreitete Metapher
Die moderne leitungsorientierte Perspektive sieht Organisationen als Maschinen, in der postmodernen pluralistischen Perspektive hingegen ist die weitverbreitete 35Metapher die Familie. Wenn Sie den Leitern postmoderner Organisationen zuhören, dann werden Sie bemerken, wie oft diese Metapher in der einen oder anderen Form auftaucht: die Mitarbeiter sind Teil einer Familie, sie halten zusammen, helfen einander und sind füreinander da. Bei Southwest Airlines ist einer der acht Hinweise für die Entwicklung eines „Servant Heart“ (eines dienenden Herzens) die Fürsorge für die „Southwest Airline Familie“. DaVita, einer der führenden Betreiber von Dialysezentren, hat postmoderne Organisationsprinzipien implementiert und praktiziert sie mit großer Beständigkeit.[15] Hier wird eine andere Metapher für die Gemeinschaft benutzt: Trotz ihrer beträchtlichen Größe bezeichnet sich das Unternehmen selbst als Dorf und nennt ihre 41.000 Mitarbeiter Bürger. Das Hauptquartier ist als Casa DaVita bekannt, während Kent Thiry, der Vorstandschef und Geschäftsführer als Bürgermeister des Dorfes bezeichnet wird. (Thiry kommt das Verdienst zu, das Unternehmen 1999 vor dem Bankrott gerettet und durch die pluralistische Kultur, die er implementiert hat, zum gegenwärtigen Erfolg geführt zu haben.)
Von tribal zu postmodern: Die Koexistenz von Organisationsmodellen
Organisationen, wie wir sie heute kennen, sind ein relativ neues Phänomen. Die meiste Zeit der Geschichte unserer Spezies hatten wir mit Jagen und Sammeln zu tun. Dabei können wir wohl davon ausgehen, dass es dabei nicht zur Anhäufung von Emails und ermüdenden Budgetdiskussionen kam. Im historischen Überblick ist es noch gar nicht lange her, dass wir in das Zeitalter der Landwirtschaft eintraten, wobei sich diese Organisationen meist nicht über die Familie hinaus erstreckten. Erst mit der industriellen Revolution begannen Organisationen, eine große Anzahl menschlicher Ressourcen zu nutzen. Management als ein akademisches Interessenfeld hat sicher erst in den letzten 50 Jahren wirklich entwickelt.
Wenn wir die aufeinanderfolgenden Stufen des Bewusstseins der Menschen und ihrer Organisationen auf eine Zeitachse setzen, erhalten wir ein überraschendes Ergebnis. Die Evolution scheint sich zu beschleunigen, sie wird immer schneller und schneller. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, werden wir wohl in unserer Lebenszeit die Emergenz von einer Stufe oder gar zwei Stufen nach der Postmoderne erleben.
36Diese Illustration zeigt ein weiteres interessantes Phänomen: Nie zuvor in unserer Geschichte gab es Menschen, die sich auf so viele verschiedene Paradigmen beziehen und nebeneinander leben. Das Gleiche gilt für Organisationen: Wenn wir genau hinschauen, finden wir in der gleichen Stadt tribale, traditionelle, moderne und postmoderne Organisationen, die nebeneinander agieren.
In einer groben Verallgemeinerung können wir meines Erachtens sagen, dass in den entwickelten Ländern tribale impulsive Organisationen nur an den Rändern existieren. Traditionelle konformistische Organisationen sind in Regierungsbehörden, dem Militär, in religiösen Organisationen und im öffentlichen Schulsystem immer noch sehr verbreitet. Das moderne leistungsorientierte Paradigma ist eindeutig die vorherrschende Perspektive der Wirtschaftsunternehmen von der Wall Street bis zu Kleinunternehmen. Postmoderne pluralistische Unternehmen sind zunehmend auf dem Vormarsch, nicht nur unter gemeinnützigen Organisationen, sondern auch in der Wirtschaft. Die folgende Tabelle fasst diese vier Organisationsmodelle, ihre Durchbrüche und bestimmenden Metaphern zusammen. Darin zeigt sich der gegenwärtige Stand der Dinge, aus dem heraus vielleicht gerade ein neues Modell entsteht.
Beispiele heute |
Wichtige Durchbrüche |
Bestimmende Metapher |
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Tribale impulsive Organisationen (Rot) |
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Ständige Machtausübung durch den Anführer, um den Gehorsam der Untergebenen zu sichern. Angst hält die Organisation zusammen. Sehr reaktiv, kurzfristiger Fokus. Gedeiht in chaotischen Umgebungen. |
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Traditionelle konformistische Organisationen (Bernstein) |
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Stark formalisierte Rollen innerhalb einer hierarchischen Pyramide, Anweisung und Kontrolle von oben nach unten (Was und Wie), Stabilität ist der höchste Wert und wird durch exakte Prozesse gesichert, die Zukunft ist die Wiederholung der Vergangenheit. |
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Moderne leistungsorientierte Organisationen (Orange) |
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Das Ziel ist, besser zu sein als die Konkurrenz, Profite zu erwirtschaften und zu expandieren. Durch Innovation kann man an der Spitze bleiben. Management durch Zielvorgaben (Anweisung und Kontrolle bei dem, was getan wird; Freiheit dabei, wie es getan wird). |
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37Postmoderne pluralistische Organisationen (Grün) |
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Innerhalb der klassischen Pyramidenstruktur, Fokus auf Kultur und Empowerment, um eine herausragende Motivation der Mitarbeiter zu erreichen. |
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Integrale evolutionäre Organisationen (Petrol) |
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1.2 Über die Stufen der Entwicklung
Es ist nicht notwendigerweise „besser“, auf einer höheren Entwicklungsebene zu sein, so wie ein Jugendlicher nicht „besser“ ist als ein Kleinkind. Aber es ist trotz alledem eine Tatsache, dass ein Jugendlicher mehr tun kann, als ein Kleinkind, weil er oder sie ein ausgereifteres Denken entwickelt hat. Jede Ebene der Entwicklung ist gut; die Frage ist aber, ob diese Entwicklungsebene zum Handeln passt, das in einer bestimmten Situation angemessen ist.
Nick Petrie
Jetzt ist vielleicht der Moment gekommen, um auf unserer Entdeckungsreise eine Pause einzulegen, bevor wir die integrale Weltsicht, die nächste Stufe des menschlichen Bewusstseins untersuchen. Ich möchte einige hilfreiche Erklärungen hinzufügen, um den Prozess der menschlichen Evolution besser verstehen zu können und Missverständnisse zu vermeiden. Wenn Menschen das erste Mal von aufeinanderfolgenden Stufen der menschlichen Evolution hören, dann sind sie manchmal so fasziniert von dieser Einsicht, dass sie dieses neue Wissen wahllos anwenden und damit die Wirklichkeit zu sehr vereinfachen, damit sie mit dem Modell übereinstimmt. Andere Menschen haben die entgegengesetzte Reaktion; sie tun sich schwer mit einem Modell, das dazu genutzt werden könnte, Menschen zu bewerten und in verschiedene Schubladen zu stecken.
Wenden wir uns zunächst einem möglichen Missverständnis zu: Manchen Menschen bereitet es Schwierigkeiten, aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen anzunehmen, denn es könnte bedeuten, dass andere Menschen besser sind als andere. Das ist eine berechtigte Sorge. Als Menschheit haben wir einander sehr viel Gewalt angetan, durch Kolonialismus, Sklaverei, Rassismus und Sexismus, wobei es immer darum ging, dass eine Gruppe „besser“ ist als die andere.
Das menschliche Bewusstsein entwickelt sich in aufeinanderfolgenden Stufen, wir können die umfangreichen Forschungsergebnisse, die auf diese Realität 38hinweisen, nicht einfach ignorieren. Das Problem ist nicht die Realität der Stufen; es liegt vielmehr in unserer Betrachtungsweise der Treppe. Wir schaffen Probleme, wenn wir glauben, dass die späteren Stufen „besser“ sind als die früheren. Eine angemessenere Interpretation wäre, dass sie „komplexer“ in ihrem Umgang mit der Welt sind. Ein Mensch, der beispielsweise aus dem postmodernen Paradigma handelt, kann die gegensätzlichen Perspektiven anderer Menschen in einer Weise integrieren, wie es einem Menschen, der aus einem tribalen Paradigma handelt, nicht möglich sein wird. Gleichzeitig hat jede Ebene ihre Licht- und Schattenseiten, gesunden und ungesunden Ausdrucksformen. Die Moderne hat unserem Planeten zum Beispiel in einem Ausmaß geschadet, wie es vorhergehenden Stufen gar nicht möglich war.
Eine andere Möglichkeit, um die Stufen nicht mit Bewertungen zu belegen, liegt in der Erkenntnis, dass jede Stufe für bestimmte Kontexte angemessen ist. Wenn wir in einem Bürgerkrieg sind und unser Haus angegriffen wird, dann wäre das tribale impulsive Paradigma dasjenige, aus dem wir in dieser Situation denken und handeln sollten, um uns selbst zu verteidigen. In Friedenszeiten und in post-industriellen Gesellschaften hingegen ist das tribale Paradigma nicht so wirkungsvoll wie einige der späteren Stufen.
Die Komplexität der menschlichen Evolution
Die Diskussion über Stufen ist nur eine Abstraktion der Realität; so wie eine geografische Landkarte nur eine vereinfachte Beschreibung einer Landschaft ist. Wir erhalten dadurch Unterscheidungen, die das Verstehen einer komplexen, darunterliegenden Wirklichkeit ermöglichen, aber wir bekommen keine genaue Abbildung der Wirklichkeit. Im vorhergehenden Kapitel 1.1 habe ich Sie im Schnelldurchlauf durch die menschliche Evolution begleitet, und indem ich eine Stufe nach der anderen beschrieben habe, konnte ich vielleicht den Eindruck erwecken, dass Menschen (oder Gesellschaften) feinsäuberlich getrennt nur aus einem Paradigma leben. Die Forschung zeigt aber – zum Glück! –, dass wir Menschen wunderbar komplex sind und nicht auf eine einzige Stufe reduziert werden können:
- Jedes Paradigma umfasst und transzendiert die vorhergehenden. Wenn wir also gelernt haben, aus dem modernen leistungsorientierten Paradigma zu leben, haben wir dennoch die Fähigkeit, wenn es angemessen ist, auch aus dem traditionellen konformistischen oder dem tribalen impulsiven Paradigma zu handeln. Auch das Gegenteil kann in gewissem Ausmaß zutreffen: Wären wir von Menschen umgeben, die aus einer späteren Stufe handeln, beispielsweise aus der postmodernen pluralistischen Stufe, könnten wir zeitweise das entsprechende Verhalten zeigen, auch wenn wir diese Stufe noch nicht integriert haben.
- Die menschliche Entwicklung hat viele Dimensionen – kognitiv, moralisch, psychologisch, sozial, spirituell usw. – und wir wachsen meist nicht in allen Bereichen in der gleichen Geschwindigkeit. Wir können zum Beispiel die moderne Kognition verinnerlicht haben und ein innovatives Unternehmen 39führen, aber in spiritueller Hinsicht hängen wir einem traditionellen christlichen Fundamentalismus an.
Aus diesen Gründen zucke ich zusammen, wenn ich höre, dass Menschen versuchen, andere in bestimmte Stufen einzuordnen (und sagen, dass jemand „Grün“ oder „Orange“ sei). Die beste Ausdrucksweise, die wir finden können, besteht in der Formulierung, dass ein Mensch in einem bestimmten Moment aus einem spezifischen Paradigma lebt oder handelt. Don Beck, ein Schüler des Entwicklungspsychologen Clare Graves, benutzt eine aufschlussreiche Analogie: Wenn Evolution Musik wäre, dann wären die Entwicklungsstufen Musiknoten, die auf einer bestimmten Frequenz schwingen. Die Menschen wären wie Saiten, die in der Lage sind, viele verschiedene Noten zu spielen. Die Anzahl der Noten, die sie spielen können, hängt vom Ausmaß der Spannungen ab, an die sie sich anpassen können.
Hierbei sollten wir auch bedenken, dass Menschen, die aus der gleichen Stufe leben (also die gleiche Note spielen), die Welt sehr unterschiedlich sehen können, trotz der Tatsache, dass sie bestimmte kognitive, moralische oder psychologische Eigenschaften teilen. Ein rechtskonservativer christlicher Fundamentalist und ein linksprogressiver Gewerkschaftsführer handeln beide aus der modernen konformistischen Welt der Gewissheiten, aber bei so gut wie jeder anderen Frage kommen sie zu völlig unterschiedlichen Antworten. Auf einer Cocktailparty finden ein protziger Wall Street-Banker, ein introvertierter Wissenschaftler und ein modischer Grafikdesigner vielleicht kein gemeinsames Gesprächsthema, obwohl alle drei die Welt aus einer modernen leistungsorientierten Perspektive sehen. Wir können uns vertikal entwickeln, indem wir eine Perspektive aus einer späteren Stufe integrieren, es gibt aber genauso viel Raum für horizontale Entwicklung innerhalb einer Stufe – sagen wir von einer intoleranten und engstirnigen zu einer großzügigen und weltoffenen Ausdrucksform der modernen Stufe.
Der Übergang in neue Stufen
Jede Herausforderung, die dir im Leben begegnet, ist eine Weggabelung. Du hast die Wahl, in welche Richtung du gehen willst – nach vorn, nach hinten, Zusammenbruch oder Durchbruch.
Ifeamyi Enoch Onuoha
Was bringt einen Menschen dazu, sich für eine spätere, komplexere Bewusstseinsstufe zu öffnen? Forschungen zeigen, dass der Auslöser für vertikale Entwicklung oft tiefe Lebenskrisen sind, die auf der gegenwärtigen Stufe keine Lösung finden. Wenn wir mit solch einer Herausforderung konfrontiert werden, sind zwei Herangehensweisen möglich: Wir können in eine komplexere Perspektive hineinwachsen, die eine Lösung für unser Problem eröffnet, oder wir können versuchen, das Problem zu ignorieren, wobei wir uns manchmal noch stärker an unserer momentanen Weltsicht festhalten (oder gar zur Sicherheit gewährenden Einfachheit einer früheren Weltsicht zurückgehen). Nehmen wir als Beispiel den Übergang vom traditionellen konformistischen zum modernen leitungsorientierten 40Paradigma. Wenn ein Mensch sich verschiedenen Gruppen verbunden fühlt (z. B. der Familie, Freunden, seiner Arbeit und der Kirche) und die Normen bei zwei oder mehr dieser Gruppen in einen Konflikt geraten, dann ist die konformistische Weltsicht überfordert, denn etwas kann nicht gleichzeitig falsch und richtig sein. Als Reaktion darauf kann man sich einfach dafür entscheiden, ein Glaubenssystem wiederherzustellen und zu stärken, indem man mit einer Gruppe verbunden bleibt, und die anderen ablehnt. Oder man beginnt, den Wert absoluter Regeln zu hinterfragen.
Der Wechsel auf eine neue Stufe ist in kognitiver, psychologischer und moralischer Hinsicht ein großes Unterfangen. Es erfordert den Mut, alte Gewissheiten loszulassen und mit einer neuen Weltsicht zu experimentieren. Eine Zeit lang kann alles unsicher und verwirrend erscheinen. Es kann uns auch einsam machen, weil wir in diesem Prozess manchmal enge Beziehungen mit Freunden oder Familienmitgliedern verlieren, die uns nicht mehr verstehen. Das Wachsen in eine neue Form des Bewusstseins ist immer ein sehr persönlicher, einzigartiger und ziemlich geheimnisvoller Prozess. Man kann ihn niemandem aufzwingen. Man kann niemanden dazu bringen, sein Bewusstsein zu entwickeln, selbst wenn man dabei die besten Absichten verfolgt – eine unbequeme Wahrheit für Coaches und Berater, die sich wünschen, sie könnten Führungskräfte in Organisationen dabei helfen, durch die Kraft der Überzeugung eine komplexere Weltsicht anzunehmen. Wir können aber Umgebungen schaffen, die das Wachstum zu späteren Stufen fördern. Wenn jemand von Menschen umgeben ist, die die Welt schon aus einer komplexeren Perspektive sehen, in einer Umgebung, die sicher genug ist, um innere Konflikte zu thematisieren, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass derjenige den Sprung schaffen wird.[1]
Die Anwendung der Stufenentwicklung in Organisationen
Um eine unzulässige Vereinfachung zu vermeiden, müssen wir auch vorsichtig sein, wie wir Entwicklungstheorien auf Organisationen anwenden. Manchmal werde ich gefragt, „Auf welcher Stufe ist diese oder jene Organisation?“ Dabei ist mir wichtig, zunächst einmal zu erklären, was ich meine, wenn ich darüber spreche, dass Organisationen aus einer bestimmten Stufe handeln, wie z. B. traditionell, modern oder postmodern: Ich meine damit Systeme und Kulturen, keine Menschen. Wenn wir die Struktur, die Praktiken und die kulturellen Elemente einer Organisation betrachten, können wir im Allgemeinen herausfinden, aus welcher Weltsicht diese stammen. Ich möchte dies hier am Beispiel der Vergütung beschreiben:
- Wenn der Chef frei und einer Laune folgend entscheiden kann, Löhne zu erhöhen oder zu reduzieren, wäre dies ein Zeichen für das tribale impulsive Paradigma.
- Wenn die Gehälter festgelegt sind und von der Hierarchieebene, auf der ein Mitarbeiter arbeitet (sein Diplom), abhängt, dann haben wir es wohl mit dem traditionellen konformistischen Paradigma zu tun.
- 41Ein System, in dem individuelle Anreize für die Mitarbeiter bestehen, um festgelegte Zielvorgaben zu erreichen, kommt wahrscheinlich aus einer modernen leistungsorientierten Weltsicht.
- Ein Fokus auf Bonuszahlung für Teams würde mit der postmodernen pluralistischen Perspektive übereinstimmen.
Wenn man ein Werkzeug anwendet, dann übernimmt man auch die Managementphilosophie, die diesem Werkzeug innewohnt.
Clay Shirky
Wenn wir durch diesen Filter nicht nur die Vergütung, sondern alle Strukturen, Praktiken und die Kultur einer Organisation betrachten, dann können wir erkennen, dass sie nicht zufällig über die Stufen verteilt sind, sondern sich um einen Schwerpunkt herum anordnen, eine Stufe, die die meisten Praktiken der Organisation definiert. Diesen Schwerpunkt meine ich, wenn ich zum Beispiel von einer modernen Organisation spreche. Um es hier noch einmal besonders hervorzuheben, ist es also nicht so, dass der Ausdruck „moderne Organisation“ besagt, dass alle täglichen Interaktionen an diesem Arbeitsplatz mit dem modernen leistungsorientierten Paradigma übereinstimmen oder dass alle Mitarbeiter diese Stufe erreicht haben und hauptsächlich aus einer modernen Perspektive handeln. Das ist niemals der Fall. In jedem Moment werden unterschiedliche Menschen in ihren täglichen Interaktionen aus verschiedenen Stufen agieren. Der Begriff „moderne Organisation“ bedeutet, dass der Großteil der Strukturen, Praktiken und Prozesse einer Organisation durch das moderne leistungsorientierte Paradigma geformt wurden.
In großen Organisationen können bestimmte Abteilungen und Orte andere Schwerpunkte haben als der Rest der Organisation. Ein typisches Beispiel: Das Hauptquartier eines großen multinationalen Konzerns agiert hauptsächlich aus dem modernen Paradigma, während einige der Fabriken traditionell organisiert sind. Wir sollten deshalb immer vorsichtig sein, wenn wir die Dinge unzulässig vereinfachen und im Klaren sein, worauf sich eine bestimmte Bezeichnung bezieht (und auf was nicht).
Der Zug der Führung – nach unten und oben
Wodurch wird bestimmt, aus welcher Stufe eine Organisation handelt? Es ist die Stufe, aus der die Führung der Organisation die Welt betrachtet. Bewusst oder unbewusst etablieren Führungskräfte in der Organisation diejenigen Strukturen, Praktiken und Kulturen, die ihnen sinnvoll erscheinen und mit ihrem Umgang mit der Welt korrespondieren.
Das bedeutet, dass eine Organisation sich nicht weiter entwickeln kann, als die Entwicklungsebene, auf der sich die Führung befindet. Die Praktik der Formulierung gemeinsamer Werte und eines Leitbildes kann diesen Punkt gut illustrieren. Weil diese Praxis gerade hoch im Kurs steht, fühlen sich die Führungskräfte in modernen Organisationen zunehmend verpflichtet, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die Werte und ein Leitbild formuliert. Sich bei 42der Entscheidungsfindung auf Werte und ein Leitbild zu beziehen, ist nur im postmodernen Paradigma sinnvoll. Auf der modernen Stufe ist der Maßstab für Entscheidungen der Erfolg: Wir werden das tun, was uns gute Profite bringt. In modernen Organisationen geben die Führungskräfte vielleicht ein Lippenbekenntnis zu den Werten ab; aber wenn es hart auf hart kommt, und die Führenden sich zwischen Profit und Werten entscheiden müssen, werden sie sich voraussehbar für Ersteres entscheiden. Sie können nicht die Praxis und die Kultur (in diesem Fall eine werteorientierte Kultur) aufrechterhalten, die aus einer späteren Entwicklungsstufe kommen.[2]
Wenn wir unseren Blick auf die Dinge verändern, dann verändern sich auch die Dinge, auf die wir blicken.
Wayne Dyer
Der Zug, den Führungskräfte auf eine Bewusstseinsstufe ausüben, kann in zwei Richtungen gehen: Sie können Praktiken, die aus späteren Stufen stammen „zurückziehen“ (wodurch sie unwirksam werden, wie im gerade angeführten Beispiel), aber sie können auch einen starken Zug „nach vorn“ ausüben. Die Struktur, Praktiken und Kultur, die sie etablieren, können es den Mitarbeitern ermöglichen, Verhaltensweisen anzunehmen, die für ein komplexeres Paradigma typisch sind, und die sie noch nicht vollkommen integriert haben. Nehmen wir an, ich bin ein mittlerer Angestellter, der die Welt vor allem aus einer traditionellen konformistischen Perspektive sieht. Mein natürlicher Umgang mit meinen Mitarbeitern wäre strikt hierarchisch, wobei ich ihnen genau sage, was sie tun sollen und wie sie es zu tun haben. Sagen wir, ich arbeite in einer postmodernen pluralistischen Organisation, in der mich meine Vorgesetzten dazu anhalten, dass ich meine Mitarbeiter durch Empowerment unterstütze. Neben mir sehe ich, dass andere Manager ihren Mitarbeitern viel Freiraum geben. Zweimal jährlich erhalte ich ein 360-Grad-Feedback, auch von meinen engsten Mitarbeitern, die mir sagen, wie gut ich beim Empowerment bin (was meine Boni beeinflussen kann); ich werde angehalten, mich alle sechs Monate mit meinem Team zusammenzusetzen und zu besprechen, wie es uns im Team geht und wie gut wir die Werte des Unternehmens (zu denen Empowerment gehört) leben. In solch einem starken Kontext einer postmodernen pluralistischen Kultur werde ich wahrscheinlich einige postmoderne Management-Fertigkeiten und Verhaltensweisen übernehmen. Der Kontext hat mich „nach oben“ gezogen, wodurch mein Handeln komplexer wurde, als ich es allein vermocht hätte. Mit der Zeit und wenn ich bereit dafür bin, wird mir dieser Kontext vielleicht auch ermöglichen, in diese Stufe hineinzuwachsen und sie authentisch zu integrieren.
Das ist der wahre Genius von Organisationen: Sie können Menschen als Gruppe dazu verhelfen, über sich hinauszuwachsen und Ergebnisse zu erreichen, die sie allein nie geschafft hätten. Dies ist eine hoffnungsvolle Einsicht in einer Zeit, in der wir das Bewusstsein postmoderner und integraler Organisationen brauchen, um damit zu beginnen, die Welt von den Wunden der Moderne zu heilen.
431.3 Das integrale evolutionäre Paradigma (Petrol)
Die aufregendsten Durchbrüche im 21. Jahrhundert werden nicht durch die Technologie entstehen, sondern durch ein sich erweiterndes Verständnis unseres Menschseins.
John Naisbitt
[Auf der integralen Stufe] wird das Ego eher relativ und bleibt nicht absolut.
William Torbert
Die nächste Stufe in der menschlichen Evolution korrespondiert mit der Ebene der „Selbstverwirklichung“ im Modell von Abraham Maslow und wird authentisch oder integral genannt und mit der Farbe Petrol (in anderen Systemen mit Gelb) gekennzeichnet.[1] Diese Stufe ist die letzte, die Maslow in seiner Bedürfnishierarchie erwähnt hat (obwohl er später eine weitere Stufe ahnte, die er als „Selbsttranszendenz“ bezeichnete), aber andere Forscher und Denker haben durch umfangreiche Daten mit ziemlicher Sicherheit zeigen können, dass die Evolution nicht bei dieser Stufe aufhört (der Anhang 2 gibt eine kurze Beschreibung der späteren Stufen). Wie dem auch sei, Maslow und andere Autoren stimmen darin überein, dass der Übergang von postmodern zu integral in der menschlichen Entwicklung ein besonders folgenschwerer ist – so umfassend, dass Clare Graves und andere, die sein Modell weiterentwickelt haben, den Begriff „erster Rang“ (First Tier) für alle Stufen bis postmodern verwenden und den Begriff „zweiter Rang“ (Second Tier) für die Stufen nach integral. Alle Stufen des ersten Ranges gehen davon aus, dass ihre Weltsicht die einzig richtige ist, und dass andere Menschen gefährlich in die Irre gehen.[2] Menschen, die sich zur integralen Stufe entwickeln, können zum ersten Mal akzeptieren, dass es eine Evolution des Bewusstseins gibt, und dass sich diese Evolution in Richtung zunehmend komplexerer und verfeinerter Verhaltens- und Beziehungsformen in der Welt ausdrückt (daher kommt auch der Begriff „evolutionär“, den ich für diese Stufe verwenden werde).
Die Ängste des Egos in den Griff bekommen
Jeder der Übergänge auf eine neue Stufe wird möglich, wenn wir in der Lage sind, einen höheren Blickpunkt zu erreichen, von dem wir die Welt aus einer weiteren Perspektive sehen können. Wie ein Fisch, der zum ersten Mal das Wasser sehen kann, wenn er über die Wasseroberfläche springt, setzt das Erreichen einer neuen Perspektive voraus, dass wir uns von etwas trennen, von dem wir vorher umgeben waren. Der Übergang zur traditionellen konformistischen Stufe geschieht dann, wenn das tribale impulsive Paradigma Regeln verinnerlicht hat, die es ihm erlauben, sich von der impulsiven Befriedung der eigenen Begierden zu lösen. Der Übergang zur modernen leistungsorientierten Stufe wird möglich, wenn sich das traditionelle Paradigma von den Gruppennormen trennt. Der Übergang zur integralen evolutionären Stufe geschieht, wenn wir die Identifikation mit unserem eigenen Ego überwinden. Indem wir unser Ego 44aus der Distanz betrachten, sehen wir plötzlich, wie seine Ängste, Ziele und Wünsche oft unser Leben bestimmen. Wir können aber unser Bedürfnis, unser Leben zu kontrollieren, gut auszusehen und uns anzupassen, verringern. Wir sind nicht mehr mit unserem Ego verschmolzen und wir lassen nicht zu, dass seine Ängste reflexhaft unser Leben kontrollieren. In diesem Prozess öffnen wir den Raum, um auf die Weisheit anderer, tieferer Teile in uns zu hören.
Angst ist der schäbigste Raum im Haus. Ich möchte, dass du in einer besseren Umgebung lebst.
Hafiz
Was tritt an die Stelle der Angst? Die Fähigkeit, der Fülle des Lebens zu vertrauen. Alle Weisheitstradition haben die tiefe Wahrheit formuliert, dass es zwei grundlegende Wege gibt, um dieses Leben zu leben: aus Angst und Mangel oder aus Vertrauen und Fülle. Auf der integralen evolutionären Stufe gehen wir von der Angst zum Vertrauen, und unser Bedürfnis, Menschen und Ereignisse zu kontrollieren, verringert sich. Wir folgen nun der Haltung, dass auch wenn etwas Unerwartetes geschieht oder wir Fehler machen, die Situation gut ausgehen wird – und wenn nicht, dann hat uns das Leben eine Möglichkeit zum Lernen und Wachsen gegeben.
Innere Stimmigkeit als Kompass
Wenn wir mit unserem Ego identifiziert sind, dann werden wir dazu getrieben, Entscheidungen nach äußeren Faktoren zu treffen – was andere über uns denken werden oder welches Ergebnis erreicht werden kann. Aus der tribalen impulsiven Perspektive ist eine gute Entscheidung diejenige, die mir gibt, was ich will. Im traditionellen konformistischen Paradigma betrachten wir Entscheidungen im Licht der Konformität gegenüber sozialen Normen. Entscheidungen, die über das hinausgehen, was die eigene Familie, Religion oder soziale Klasse als legitim ansieht, führen zu Schuld und Scham. In der modernen leistungsorientierten Perspektive sind Effektivität und Erfolg die Maßstäbe, nach denen Entscheidungen getroffen werden. Auf der postmodernen pluralistischen Stufe werden Situationen nach den Kriterien der Zugehörigkeit und Harmonie beurteilt.
In der integralen evolutionären Perspektive wechseln wir von äußeren zu inneren Maßstäben für unsere Entscheidungsfindung. Hier beschäftigt uns die Frage der inneren Stimmigkeit: Erscheint mir diese Entscheidung richtig zu sein? Bleibe ich mir selbst treu? Stimmt es mit dem überein, was ich als die Richtung meiner Entwicklung sehe? Bin ich von Nutzen für die Welt? Mit weniger Ängsten des Egos können wir Entscheidungen treffen, die risikoreich erscheinen, und bei denen wir nicht alle möglichen Folgen vorher abgewogen haben, die aber mit unseren tiefen inneren Überzeugungen in Resonanz sind. Wir entwickeln eine Sensibilität für Situationen, in denen etwas falsch zu laufen scheint und die uns dazu auffordern, aus einem Gefühl der Integrität und Authentizität etwas zu sagen und zu handeln – auch angesichts von gegenteiligen Meinungen und scheinbar geringen Erfolgsaussichten.
Anerkennung, Erfolg, Wohlstand und Zugehörigkeit werden als angenehme Erfahrungen gesehen, aber auch als verlockende Fallen für das Ego. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Stufen ist die Reihenfolge umgekehrt: Wir verfolgen 45Anerkennung, Erfolg, Wohlstand und Zugehörigkeit nicht, um ein gutes Leben zu leben. Wir versuchen vielmehr, ein gutes Leben zu leben, und die Folge davon könnten Anerkennung, Erfolg, Wohlstand und Liebe sein.
Das Leben als Reise der Entfaltung
Nun werde ich zu mir selbst. Es hat lang gedauert, viele Jahre und Orte; Ich wurde aufgelöst und erschüttert, habe die Gesichter anderer getragen …
May Sarton
Auf den vorherigen Stufen formt das Verfolgen von Liebe, Anerkennung und Erfolg langsam aber sicher unser Leben bis zu dem Punkt, wo wir – mit den Worten des Dichters May Sarton – „die Gesichter anderer tragen“. Auf der integralen Stufe bringt uns die Suche nach innerer Stimmigkeit zu einer Seelenreise, auf der wir uns fragen, wer wir sind und was unser Sinn in diesem Leben sein könnte. Das letztendliche Ziel im Leben besteht nicht darin, erfolgreich oder geliebt zu sein, sondern der wahrhaftigste Ausdruck unseres tiefsten Selbst zu werden. Wir respektieren unsere Talente und unsere Berufung und wollen für die Menschheit und die Welt von Nutzen sein. Auf der integralen Stufe wird das Leben als eine persönliche und kollektive Reise zu unserer wahren Natur gesehen.
Dies gleicht einer kopernikanischen Revolution, in einer Zeit, in der uns gesagt wird, dass wir alles werden können, was wir wollen, wenn wir uns nur genug anstrengen. Wenn wir „uns in das Integrale hineinentwickeln“, dann setzen wir uns keine Lebensziele mehr, die bestimmen, in welche Richtung wir gehen. Stattdessen lernen wir, loszulassen und auf das Leben zu hören, das durch uns gelebt werden will. Der Autor, Pädagoge und Aktivist Parker Palmer beschreibt diese Sicht auf das Leben und unsere Berufung in seinem Buch Let Your Life Speak in wunderbaren Worten:
Hinter der Idee der Berufung steht eine Wahrheit, die das Ego nicht hören will, weil es die Vorherrschaft des Egos bedroht: Jeder hat ein Leben, das sich von dem „Ich“ des alltäglichen Bewusstseins unterscheidet; ein Leben, das durch das „Ich“ als Gefäß leben will. …
Es braucht Zeit und mühevolle Erfahrungen, um den Unterschied zwischen beiden zu spüren – das Empfinden, das unter der Oberfläche der Erfahrung, die ich mein Leben nenne, ein tieferes und wahreres Leben auf meine Anerkennung wartet.[3]
Viele Menschen, die sich in diese Perspektive hineinbewegen, beginnen mit Übungen wie Meditation, Kontemplation, Kampfkünsten, Yoga oder einfach Spaziergängen in der Natur, um einen stillen Platz zu finden, der es der Stimme der Seele erlaubt, uns ihre Wahrheit und Führung zu vermitteln. Menschen, die aus dieser Perspektive leben und sich mit einem tieferen Empfinden von Sinn verbinden, können im Ausdruck ihrer Berufung erstaunlich angstfrei sein. Ihr Ego ist unter Kontrolle und deshalb fürchten sie sich weniger vor dem Scheitern, als vor einem verpassten Versuch. Clare Graves bezeichnete eine Person, die aus einer integralen Perspektive lebt, am liebsten als „einen Menschen, der ein Ziel verfolgt, aber nicht ehrgeizig ist“.
46Die Hauptantriebskraft dieses Menschen ist das Wachsen in seine wahre Natur und die Arbeit an seiner Berufung. Dies kann manchmal so weit gehen, dass Menschen, die aus einer integralen Perspektive handeln, für andere, die aus anderen Weltsichten leben, als ungeduldig erscheinen.
Auf Stärken aufbauen
Wenn wir für unser Leben Ziele bestimmen, die von unserem Selbst getrennt sind – wenn wir also die Gesichter anderer tragen –, dann stehen wir nicht in der Stärke unseres Selbst. Unvermeidlich werden wir das Gefühl haben, dass uns etwas fehlt, und wir investieren viel Energie in den Versuch, unsere Schwäche zu überwinden. Oder wir geben uns selbst oder anderen die Schuld dafür, dass wir nicht so sind, wie wir unserer Meinung nach sein sollten.
Wenn wir unser Leben als eine Reise der Entfaltung in unsere wahre Natur verstehen, können wir unsere Grenzen sanfter und realistischer sehen und mit dem, was wir dabei erkennen, in Frieden sein. Das Leben verlangt von uns nicht, etwas zu werden, was nicht in uns angelegt ist. In dieser Perspektive neigen wir auch dazu, uns nicht so sehr auf das zu fokussieren, was in Menschen oder Situationen fehlt oder falsch ist, sondern wir richten unsere Aufmerksamkeit eher auf das, was schon vorhanden ist, auf die Schönheit und das Potenzial. Wir tauschen Beurteilung gegen Mitgefühl und Wertschätzung. Psychologen bezeichnen diesen Übergang als den Wandel von einem Paradigma des Mangels zu einem Paradigma, das auf unseren Stärken basiert. Langsam breitet sich dieser Wandel in verschiedenen Bereichen aus, von Management bis Bildung, von Psychologie bis Gesundheitsversorgung – Grundlage ist die Botschaft, dass wir Menschen keine Probleme sind, die auf eine Lösung, sondern auf die Entfaltung ihrer Potenziale warten.
Angemessener Umgang mit Widrigkeiten
Mit angemessener Demut akzeptieren wir, dass wir die Welt nicht kontrollieren können. … Wir akzeptieren, dass das Verlieren zum Leben dazugehört. Wir haben keine Angst vor Widrigkeiten oder Leiden. Daraus entsteht neues Lernen, neues Wachstum, neue Hoffnung und ein neues Leben.
Dennis Bakke
Wenn das Leben als Entdeckungsreise gesehen wird, dann können wir angemessener mit den Rückschlägen, Fehlern und Hindernissen des Lebens umgehen. Wir können die spirituelle Einsicht verstehen, dass es keine Fehler gibt, sondern nur Erfahrungen, die uns auf eine tiefere Wahrheit über uns selbst und die Welt hinweisen. Auf den vorhergehenden Stufen sehen wir Hindernisse des Lebens (eine Krankheit, einen ungerechten Vorgesetzten, eine schwierige Ehe) als ungerechtes Schicksal. Wir reagieren mit Wut, Schuld oder Scham darauf. Auf der integralen Stufe werden die Hindernisse als Botschaften des Lebens gesehen, durch die es uns etwas über uns selbst und die Welt lehrt. Wir sind bereit, Wut, Scham und Schuldzuweisungen loszulassen, denn dies sind gute Schutzmechanismen des Egos aber schlechte Lehrer für unsere Seele. Wir lassen die Möglichkeit zu, dass 47wir unseren Anteil am Problem untersuchen und versuchen, daraus für unser eigenes Wachstum zu lernen. Auf früheren Stufen überzeugen wir uns oft selbst davon, dass alles in Ordnung sei, bis ein Problem sich so aufgestaut hat, dass es uns wie eine Lawine überrollt und uns zwingt, unser Leben zu verändern. Auf der integralen Stufe nehmen wir dagegen viele kleine Veränderungen vor. Wir wachsen daran, indem wir von den Problemen lernen, die uns auf unserem Weg begegnen. Auf den vorhergehenden Stufen fühlt sich Veränderung auf persönlicher Ebene bedrohlich an; auf der integralen evolutionären Stufe gibt es hingegen eine angenehme Spannung auf der Reise des persönlichen Wachstums.
Weisheit jenseits von Rationalität
In der modernen Perspektive ist Rationalität der König und regiert unangefochten bei der Suche nach der Entscheidung, die die besten Resultate erzielen wird. Jede Quelle der Einsicht, die nicht auf Fakten und logischer Überlegung beruht, ist „irrational“ und muss abgelehnt werden. Ironischerweise führt dieses Festhalten an der Rationalität oft dazu, dass die Fähigkeit, die Realität klar zu sehen, beeinträchtigt wird. Inmitten der Vielzahl von Informationen, die uns bei komplexen Entscheidungen helfen sollen, kann es geschehen, dass wir Informationen übersehen, die nicht mit unserer Weltsicht übereinstimmen. Obwohl häufig unübersehbar, bemerken wir viele Hinweise einfach nicht (oder trauen uns nicht, sie anzusprechen). Auf der integralen Stufe haften wir weniger an Ergebnissen und können deshalb leichter die nicht selten unangenehmen Wahrheiten der Wirklichkeit annehmen. Deshalb kann das rationale Denken auf der integralen Stufe korrekter mit Daten umgehen!
Jenseits von Fakten und Tabellen schöpft die Kognition auf dieser Stufe aus einem größeren Spektrum von Quellen, um die Entscheidungsfindung zu unterstützen. Die moderne wissenschaftliche Perspektive misstraut den Emotionen, die manchmal unsere Fähigkeit für rationale Abwägung vernebeln können. Die postmoderne Perspektive geht manchmal in das andere Extrem und lehnt bei der Entscheidungsfindung analytische Ansätze ab, die auf der „linken Hirnhälfte“ beruhen, und vertraut eher den Gefühlen, die in der „rechten Hirnhälfte“ lokalisiert sind. Die integrale Perspektive erschließt sich alle Bereiche des Wissens. Aus analytischen Ansätzen können wichtige Einsichten gewonnen werden. Auch in den Emotionen können wir Weisheit finden, wenn wir lernen, ihre Bedeutung zu verstehen: Warum bin ich wütend, ängstlich, ehrgeizig oder aufgeregt? Was sagt das über mich oder über die Situation, die sich gerade entfaltet, aus?
Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Geist ist sein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, die den Diener verehrt, aber das Geschenk vergessen hat.
Albert Einstein
Weisheit können wir auch in der Intuition finden. Die Intuition würdigt die komplexe, vielschichtige, paradoxe, nicht-lineare Natur der Wirklichkeit. Unbewusst können wir Muster miteinander verbinden, wie es unserem rationalen Geist nicht möglich ist. Intuition ist ein Muskel, den wir trainieren können, so wie auch das logische Denken: Wenn 48wir lernen, auf unsere Intuitionen zu achten, sie wertzuschätzen, sie in Bezug auf Wahrheit und Führung zu befragen, die darin enthalten sein könnten, werden mehr intuitive Antworten auftauchen.
Viele Menschen glauben, dass wir auch Antworten in tieferen Quellen finden können. Die Weisheitstraditionen und die transpersonale Psychologie gehen davon aus, dass wir eine Frage leben können, statt nur eine Frage zu stellen. Dann kann uns das Universum in seiner unergründlichen Fülle Hinweise auf Antworten geben – in Form unerwarteter Ereignisse, Synchronizität oder in Worten und Bildern, die in Träumen oder Meditationen auftauchen. Erweiterte Bewusstseinszustände – meditative und kontemplative Zustände, visionäre Erfahrungen, Flow-Zustände, Gipfelerfahrungen – sind auf jeder Entwicklungsstufe zugänglich. Aber ab der integralen Stufe üben Menschen oft regelmäßige Praktiken, um ihre Erfahrung in diesen Zuständen zu vertiefen und aus dem vollen Spektrum der menschlichen Erfahrung zu schöpfen.[4]
Ein weiterer kognitiver Durchbruch ist die Fähigkeit, in Paradoxien zu denken, und damit das einfache Entweder-oder-Denken durch das komplexere Sowohlals-auch-Denken zu transzendieren. Das Einatmen und Ausatmen kann diesen Unterschied gut illustrieren. Im Entweder-oder-Denken sehen wir beides als Gegensätze. Im Sowohl-als-auch-Denken sehen wir dagegen zwei Elemente, die einander brauchen: Je mehr wir einatmen können, desto mehr können wir ausatmen. Beim Ein- und Ausatmen ist das Paradox leicht verständlich. Weniger offensichtlich ist es bei einigen der großen Paradoxien des Lebens, die wir erst auf der integralen Stufe wirklich verstehen: Freiheit und Verantwortung, Alleinsein und Gemeinschaft, Fürsorge für sich selbst und Fürsorge für andere.
Durch das Zusammennehmen all dieser Aspekte – eine angstfreie Rationalität und die Weisheit, die in Emotionen, Intuition, Ereignissen und Paradoxien gefunden werden kann – schlägt die integrale evolutionäre Perspektive eine neue Seite auf: Jenseits der rationalen reduktionistischen Weltsicht der Moderne und der pluralistischen Weltsicht der Postmoderne erschließen wir uns holistische Formen des Wissens.
Die Suche nach Ganzheit
Wenn wir unsere Identifikation mit dem Ego überwinden, gehen wir auf der menschlichen Reise einen Schritt der Freiheit weiter. Die Überwindung dieser Identifikation bedeutet auch die Überwindung der Trennung. Menschen, die aus dieser Stufe leben, entwickeln oft ein feines Gespür dafür, wie sehr wir der Trennung erlaubt haben, unser Leben zu fragmentieren und welchen hohen Preis wir dafür zahlen. Wir haben zugelassen, dass unser geschäftiges Ego die leise Stimme unserer Seele übertönt. In unserer Kultur wird oft der Verstand gefeiert, aber der Körper vernachlässigt, wir schätzen das Männliche mehr als das Weibliche, wir haben die Gemeinschaft untereinander und die uns innewohnende Verbundenheit mit der Natur verloren.
Auf der integralen Stufe macht sich eine tiefe Sehnsucht nach Ganzheit bemerkbar – wir wollen das Ego mit den tieferen Teilen des Selbst verbinden; Körper, 49Seele und Geist integrieren; die weiblichen und männliche Anteile in uns entwickeln; eine Ganzheit in unseren Beziehungen mit anderen erfahren; und unsere zerbrochene Beziehung mit dem Leben und der Natur wiederherstellen. Oft geht mit dem Übergang zur integralen Perspektive eine Öffnung zu einem transzendenten spirituellen Bereich einher, wir spüren tief in uns, dass wir auf einer grundlegenden Ebene alle miteinander verbunden und Teil eines großen Ganzen sind. Nach vielen aufeinanderfolgenden Schritten der Lösung unserer Identifikation, wobei wir lernen, vollkommen unabhängig zu sein und zu uns selbst zu stehen, erkennen wir auch, dass wir paradoxerweise zutiefst Teil von Allem sind.
Diese Sehnsucht nach Ganzheit steht im Widerspruch zur Trennung, die an den meisten Arbeitsplätzen oft unbewusst gefördert wird – dabei werden das Ego und der rationale Verstand überbetont, während die emotionalen und spirituellen Aspekte negiert werden. Die Mitarbeiter werden nach den Abteilungen, in denen sie arbeiten, oder nach ihrem Rang, ihrer Ausbildung oder ihrer Leistung getrennt. Das Persönliche wird vom Beruflichen getrennt und die Organisation trennt sich von den Mitbewerbern und dem Ökosystem, in dem sie eingebettet ist. Die Sprache, die dabei benutzt wird, ist oft sehr aufschlussreich: In Organisationen wird oft von der „Work-Life-Balance“ gesprochen – eine Idee, die zeigt, wie wenig Leben in der Arbeit übrig geblieben ist, wenn wir uns selbst in so einem Ausmaß von dem, was wirklich wichtig ist, getrennt haben. Für Menschen, die sich in die integrale Stufe hineinentwickeln, wird diese Trennung am Arbeitsplatz oft so schmerzhaft, dass sie sich dafür entscheiden, die Arbeit in Organisationen zu verlassen, um in irgendeiner Form selbstständig zu arbeiten. In einem Kontext, der sie besser darin unterstützt, in sich selbst und in Beziehung zu anderen Ganzheit zu finden.
Ganzheit in der Beziehung zu anderen
Auf der integralen evolutionären Stufe können wir die Gegensätze von Beurteilung und Toleranz transzendieren. Wenn wir auf früheren Stufen mit anderen Menschen nicht übereinstimmen, dann begegnen wir ihnen oft mit Urteilen und glauben, dass wir im Recht sind und die anderen falsch liegen. Dann besteht unsere Aufgabe darin, sie zu überzeugen, zu belehren, ihnen die richtige Sicht der Dinge nahezubringen oder sie abzulehnen. Oder wir können im Namen der Toleranz – einem Ideal der pluralistischen Weltsicht – die Unterschiede übergehen und der Ansicht sein, dass alle Wahrheiten gleichermaßen wahr sind. In der integralen Perspektive können wir diese Polarität überwinden und sie in der höheren Wahrheit des Nicht-Urteilens integrieren – wir können unsere Überzeugungen untersuchen und der Ansicht sein, dass sie mehr Wahrheit enthalten, und wir können gleichzeitig die Andere oder den Anderen als Menschen annehmen, dem grundsätzlich der gleiche Wert innewohnt.
Ohne Beurteilung erhalten unsere Beziehungen eine neue Qualität. Unser Zuhören wird nicht länger darauf begrenzt, Informationen zu sammeln, um besser zu überzeugen, zu belehren oder abzulehnen. Wir können einen gemeinsamen Raum schaffen, in dem es keine Beurteilung gibt, sodass unser tiefes Zuhören 50anderen hilft, ihre Stimme und ihre Wahrheit zu finden – so wie sie uns helfen, unsere Stimme und Wahrheit zu finden. Auf der modernen Stufe haben wir uns von den unterdrückenden traditionellen Gemeinschaften befreit, in denen uns gesagt wird, was wir tun sollen. In der integralen Perspektive haben wir die Gelegenheit, die Gemeinschaft auf einer neuen Grundlage neu zu schaffen, sodass wir einander durch unser Zuhören helfen, unser wahres Selbst und unsere Ganzheit zu finden.
Ganzheit in der Verbundenheit mit dem Leben und der Natur
Auch hier gibt es ein Paradox: Je mehr wir lernen, unserem einzigartigen Selbst zu folgen, desto mehr verstehen wir, dass wir nur ein Ausdruck von etwas Größerem sind, einem wechselseitig verbundenen Netz des Lebens und Bewusstseins. Diese Erkenntnis kann erhebend, aber auch schmerzvoll sein – wir verstehen, wie tief unsere Beziehung mit dem Leben und der Natur zerbrochen ist. Wir versuchen, diese Beziehung wiederherzustellen, nicht aus einem Gefühl der moralischen Verpflichtung, sondern aus einem inneren Gewahrsein. In diesem Gewahrsein wissen wir, dass wir nicht von der Natur getrennt, sondern eins mit ihr sind. Wir sehen die Dummheit und Arroganz in einer Haltung, die den Menschen über alle anderen Lebensformen stellt. Stattdessen versuchen wir, inmitten des Lebens einen demütigeren Platz zu finden, der mehr der Wahrheit entspricht. Oft führt die neu gebildete Beziehung mit dem Leben und der Natur dazu, dass wir einen einfacheren Lebensstil entwickeln, der weniger von Besitztümern überladen ist, von denen wir dachten, dass wir sie bräuchten. Aber jetzt verstehen wir, dass wir nicht durch die Dinge, die wir besitzen, reich werden, sondern durch die Beziehungen, die unsere Seele nähren.
Was das für evolutionäre Organisationen bedeuten könnte
Im ersten Kapitel dieses Buches haben wir gesehen, dass jedes neue Organisationsmodell in der Vergangenheit Ergebnisse in einem Ausmaß erzielt hat, die für die vorhergehenden Stufen unvorstellbar waren. Eine Reihe von Forschern – Clare Graves, William Torbert, Susanne Cook-Greuter und Keith Engel, um nur einige zu nennen – haben empirisch ein anderes interessantes Phänomen festgestellt: In jeder Organisation (z. B. einer modernen Organisation) nimmt die Effektivität der Mitarbeiter zu, je höher sie sich im Entwicklungsspektrum entwickelt haben. Torbert hat beispielsweise festgestellt, dass die Entwicklungsstufe des Geschäftsführers in beträchtlichem Ausmaß den Erfolg groß angelegter Transformationsprogramme in Unternehmen bestimmt (und dabei waren Führungskräfte, die aus einer integralen evolutionären Perspektive handelten, bei Weitem am erfolgreichsten).[5] Clare Graves kam mit einem anderen Ansatz zur gleichen Schlussfolgerung. Er gruppierte Menschen nach den Paradigmen, aus denen sie meistens handelten, und gab ihnen komplexe Aufgaben.
Ich formte Gruppen mit Menschen, die ähnlich dachten, und ich konfrontierte sie mit Situationen, … in denen sie Probleme lösen mussten, für die es verschiedene Antworten gab. … und sieh da, als die Antworten hereinkamen, fand ich dieses seltsame 51Phänomen: die [integrale Perspektive] fand mehr Antworten als alle anderen zusammengenommen. Sie fanden mehr Lösungen als die [tribale], [traditionelle], [moderne] und die [postmoderne] Weltsicht zusammen. Zudem erschien mir die Qualität ihrer Lösungen in erstaunlichem Ausmaß besser zu sein. … Ich fand auch heraus, dass die durchschnittliche Zeit, die die [integrale] Gruppe brauchte, um zu einer Lösung zu kommen, in erstaunlichem Ausmaß kürzer war, als bei jeder anderen Gruppe.[6]
Es scheint, dass sich das Gesetz der Evolution auf der integralen evolutionären Stufe genauso bestätigt, wie bei den vorhergehenden Paradigmen: Je komplexer unsere Weltsicht und unsere Kognition ist, desto effektiver können wir mit Problemen umgehen.
Unternehmen handeln entweder aus der Angst des Egos oder aus der Liebe der Seele.
Richard Barrett
Für Organisationen ist dies eine hoffnungsvolle Botschaft, vor allem, wenn nicht nur Einzelne innerhalb der Organisation, sondern die Organisation selbst aus integralen evolutionären Prinzipien und Praktiken handelt. Basierend auf unserem Wissen darüber, wie Individuen aus dem integralen Paradigma handeln, können wir einige Vermutungen darüber formulieren, was die Kennzeichen evolutionärer Organisationen sind. Die Zähmung des Egos könnte weitreichende Folgen darauf haben, wie wir eine Organisation strukturieren und führen. Viele der Missstände in heutigen Unternehmen können auf Verhaltensweisen ängstlicher Egos zurückgeführt werden: politische Erwägungen, bürokratische Regeln und Prozesse, endlose Meetings, lähmende Analysen, das Horten von Informationen und Geheimnistuerei, Wunschdenken, Probleme ignorieren, ein Mangel an Authentizität, Silodenken und Konflikte im Unternehmen, Entscheidungsfindung fast ausschließlich an der Spitze der Organisationen usw. In evolutionären Organisationen, die weniger vom Ego angetrieben werden, können wir darauf hoffen, dass wir einige dieser Missstände in Unternehmen hinter uns lassen. Allgemeiner gesprochen könnte die Beziehung zur Macht in grundlegender Weise transformiert werden. Wenn Vertrauen an die Stelle von Angst tritt, wird dann eine hierarchische Pyramide die beste Struktur sein? Werden wir all die Regeln und Absprachen, die detaillierten Finanzplanungen, Zielvorgaben und Roadmaps brauchen, die Führungskräften heute ein Gefühl der Kontrolle geben? Vielleicht gibt es viel einfachere Wege der Führung einer Organisation, wenn die Ängste des Egos nicht im Weg stehen.
Weil es für Menschen in der integralen Perspektive sehr wichtig ist, die Berufung in ihrem Leben zu entdecken, fühlen sie sich wahrscheinlich auch von Organisationen angezogen, die selbst eine klare und noble Sinnausrichtung haben. Wir können erwarten, dass Sinn mehr als Profitabilität, Wachstum oder Marktanteile das Leitprinzip der Entscheidungsfindung in der Organisation sein wird. Es ist auch berechtigt anzunehmen, dass evolutionäre Organisationen nach Ganzheit und Gemeinschaft streben. Vermutlich sind es Orte, an denen die Sehnsucht der Menschen, bei der Arbeit vollkommen sie selbst sein zu können, unterstützt wird, während sie gleichzeitig in nährenden Beziehungen leben.
52Was ich gerade zusammengestellt habe, sind natürlich Vermutungen, die auf dem basieren, was wir von Individuen wissen, die die Welt durch eine integrale Perspektive sehen. Zum Glück müssen wir uns heute nicht mehr mit Vermutungen abfinden. Das zweite Kapitel dieses Buches erzählt die Geschichte von Organisationen, die schon aus diesem Paradigma leben. Wir untersuchen die Strukturen, Praktiken und Kulturen bei einem Dutzend außergewöhnlicher Pioniere. Dadurch bieten wir eine detaillierte Beschreibung, wie ein evolutionäres Organisationsmodell in der Praxis aussehen kann. Es gibt also schon Muster, die von denjenigen, die Organisationen wieder mit Seele erfüllen möchten, kopiert, weiterverbreitet und verbessert werden können.
532 Die Strukturen, Praktiken und Kulturen evolutionärer Organisationen
Kapitelübersicht
2.1 Drei Durchbrüche und eine Metapher
2.2 Selbstführung (Strukturen)
2.4 Die Suche nach Ganzheit (Allgemeine Praktiken)
2.5 Die Suche nach Ganzheit (Personalprozesse)
2.1 Drei Durchbrüche und eine Metapher
Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Victor Hugo
Bis heute hat die Menschheit in ihrer Geschichte vier Formen der Zusammenarbeit in Organisationen entwickelt, die auf vier verschiedenen Weltsichten beruhen: tribal-impulsiv (Rot), traditionell-konformistisch (Bernstein), modern-leistungsorientiert (Orange) und postmodern-pluralistisch (Grün). Jedes dieser Organisationsmodelle hat wichtige Durchbrüche hervorgebracht und uns erlaubt, komplexere Probleme anzugehen und Ergebnisse in zuvor nie da gewesenem Ausmaß zu erreichen (auf der Seite 36 findet sich eine Zusammenfassung der Durchbrüche und bestimmenden Metaphern der verschiedenen Modelle).
Wenn mehr Menschen aus einer integralen evolutionären Perspektive leben, können wir erwarten, dass es auch evolutionäre Organisationen geben wird. Welche Durchbrüche werden durch sie ermöglicht? Welche Metaphern werden ihre Essenz zum Ausdruck bringen? Im Folgenden gebe ich einige Antworten aus der Untersuchung zukunftsweisender evolutionärer Organisationen.
Eine neue Metapher: Organisationen als lebendige Systeme
Die moderne leistungsorientierte Perspektive sieht Organisationen als Maschinen. In der postmodernen pluralistischen Perspektive wird die Metapher der Familie benutzt. Einige der Gründer evolutionärer Organisationen sprechen 54explizit davon, dass wir eine neue Metapher brauchen. Organisationen als Maschinen zu verstehen, erscheint seelenlos und beengend. Die Leiter evolutionärer Organisationen wollen nicht die Rolle des unentbehrlichen Geschäftsführers spielen, der an der Spitze die Hebel betätigt und dadurch die Mitarbeiter weiter unten in Bewegung setzt, wie Zahnräder in einer Maschine. Aus der evolutionären Perspektive ist aber auch die Metapher der Familie ungenügend. Wie wir alle wissen, kommen in unseren familiären Beziehungen nicht immer unsere besten menschlichen Eigenschaften zum Ausdruck. Öfter als es uns lieb ist, zeigen sich in unseren Familien kleine oder sogar sehr große Konflikte. Und was soll diese Metapher der Familie bedeuten, wenn man sie auf Organisationen anwendet? Wenn ich Ihr Chef bin und Sie mir über Ihre Arbeit berichten, gehen wir dann davon aus, dass ich der Vater bin und Sie das Kind? Die postmoderne Sichtweise betont einen fürsorglichen, dienenden Führungsstil. Aber aus der evolutionären Perspektive betrachtet, möchte ich für niemanden in der Organisation die Vaterrolle übernehmen, nicht einmal die Rolle des fürsorglichen, dienenden Vaters.
Die Gründer von evolutionären Organisationen nutzen eine andere Metapher für die Arbeitsumgebung, die sie gestalten möchten. Mit überraschender Häufigkeit sprechen sie über ihre Organisationen als lebende Organismen oder lebendige Systeme. Das Leben hat in all seiner evolutionären Weisheit Ökosysteme von unfassbarer Schönheit geschaffen, die sich ständig zu neuen Ebenen von Ganzheit, Komplexität und Bewusstsein entwickeln. In der Natur gibt es ständig und überall Veränderungen. Darin zeigt sich der selbstorganisierende Drang, der jeder Zelle und jedem Organismus innewohnt. Dabei braucht es keine zentrale Autorität, die Befehle gibt und die Entscheidungen trifft.
Diese Metapher eröffnet neue Möglichkeiten. Stellen Sie sich vor, wie sich Organisationen verändern könnten, wenn wir sie nicht länger wie seelenlose schwerfällige Maschinen gestalten, sondern sie wie Lebewesen behandeln? Was wäre, wenn sie von der evolutionären Kraft des Lebens selbst erfüllt wären?
Die drei Durchbrüche von evolutionären Organisationen
Die Fallstudien mit den zukunftsweisenden evolutionären Organisationen, die für dieses Buch untersucht wurden, zeigen drei wichtige Durchbrüche:
- Selbstführung: Evolutionäre Organisationen funktionieren vollständig ohne Hierarchie (und auch ohne Konsens). Sie haben den Schlüssel gefunden, um die Funktionsweisen von komplexen adaptiven Systemen, wie man sie in der Natur kennt, auf Organisationen zu übertragen. Dies erweist sich in der Praxis der altbekannten hierarchischen Pyramide um ein Vielfaches überlegen.
- Ganzheit: Organisationen waren immer Orte, die Menschen dazu aufforderten, sich mit ihrem vergleichsweise begrenzten „beruflichen“ Selbst einzubringen und andere Teile des Selbst zu vernachlässigen. Oft wird gefordert, dass wir maskuline Entschlossenheit zeigen, Zielstrebigkeit und Stärke ausdrücken sowie Zweifel und Verletzlichkeit zurückhalten. Rationalität 55regiert, während die emotionalen, intuitiven und spirituellen Aspekte von uns selbst oft nicht willkommen oder sogar fehl am Platze sind. Evolutionäre Organisationen haben eine Reihe von Praktiken entwickelt, die dabei unterstützen, unsere innere Ganzheit wiederzuerlangen und unser vollständiges Selbst in die Arbeit einzubringen.
- Evolutionärer Sinn: Evolutionäre Organisationen können wir so verstehen, dass sie aus sich selbst heraus lebendig sind und eine Richtung entwickeln. Statt die Zukunft vorherzusagen und zu kontrollieren, werden die Mitglieder der Organisation eingeladen, zuzuhören und zu verstehen, was die Organisation werden will und welchem Sinn sie dienen möchte.
Jeder dieser Durchbrüche zeigt sich in einer Reihe konkreter alltäglicher Praktiken, die – manchmal subtil, manchmal radikal – von traditionell akzeptierten Managementmethoden abweichen. Diese Praktiken werden wir in den nächsten Kapiteln beschreiben, sie werden durch Geschichten und Praxisbeispiele aus wegweisenden evolutionären Organisationen illustriert. Die Kapitel 2.2 und 2.3 untersuchen das Thema Selbstführung, die Kapitel 2.4 und 2.5 vertiefen die Praktiken, die auf der Suche nach Ganzheit angewendet werden, und das Kapitel 2.6 widmet sich dem evolutionären Sinn.
Leser, die sich für einen Überblick über die verschiedenen Praktiken interessieren, können den Anhang 4 zurate ziehen, in dem die Praktiken integraler evolutionärer Organisationen im Vergleich zu herkömmlichen Ansätzen in verschiedenen Bereichen aufgeführt sind: wichtige funktionale Prozesse (Strategie, Produktentwicklung, Marketing, Verkauf), Prozesse der Personalentwicklung (Neueinstellung, Leistungsmanagement, Vergütung) und wichtige Praktiken des Arbeitsalltags (Meetings, Entscheidungsfindung, Informationsfluss).
Die Organisationen, die in der Recherche untersucht wurden
Wie Protagonisten in einem Theaterstück werden die Organisationen, die für dieses Buch untersucht wurden, in den nächsten Kapiteln an verschiedenen Stellen auf die Bühne kommen. Im Folgenden möchte ich Sie Ihnen kurz vorstellen, damit Sie einen Eindruck davon bekommen, um welche Wirtschaftsbereiche, Regionen und Größenordnungen es sich dabei handelt (und als Übersicht, wenn Sie beim Lesen des Textes noch einmal nachschauen möchten, auf welche Organisation ich mich gerade beziehe).
AES (Applied Energy Services)
Energiesektor – Global – 40.000 Mitarbeiter – Gewinnorientiert
AES wurde 1982 von Roger Sant und Dennis Bakke in den USA gegründet und wuchs schnell zu einem der weltweit größten Unternehmen für Energieproduktion und -verteilung heran. Es gibt Werke in vielen Ländern, in denen 40.000 Mitarbeiter tätig sind.
www.aes.com
56BSO/Origin
IT-Beratung – Global – 10.000 Mitarbeiter (1996) – gewinnorientiert
BSO/Origin wurde 1973 von Eckart Wintzen in den Niederlanden gegründet. Im Jahre 1996, als Wintzen die Firma verließ, nachdem er sie an Philips verkauft hatte, arbeiteten 10.000 Angestellte in 20 Ländern für das Unternehmen.
Buurtzorg
Gesundheitswesen – Niederlande – 7.000 Mitarbeiter – gemeinnützig
Buurtzorg wurde 2006 von Jos de Blok und einem Team von Krankenschwestern und -pflegern als gemeinnütziges Unternehmen gegründet. Seitdem wurde es zur größten Organisation für ambulante Krankenpflege in den Niederlanden und bietet häusliche Pflege für alte und kranke Menschen.
www.buurtzorgnederland.com
ESBZ (Evangelische Schule Berlin Zentrum)
Schule (7. bis 12. Klasse) – Deutschland – 1.500 Schüler, Mitarbeiter und Eltern – gemeinnützig
ESBZ, eine öffentlich finanzierte Schule in Berlin, wurde 2006 unter der Leitung von Margret Rasfeld gegründet (die Direktorin der Schule). Die Schule hat für ihr innovatives Curriculum und Organisationsmodell internationale Anerkennung erhalten.
www.ev-schule-zentrum.de
FAVI (Fonderie et Ateliers du Vimeu)
Metallverarbeitung – Frankreich – 500 Mitarbeiter – gewinnorientiert
FAVI wurde 1957 in Nordfrankreich als Familienbetrieb gegründet und stellt im Druckgussverfahren Kupferlegierungen her. Im Jahre 1983 wurde Jean-François Zobrist zum Geschäftsführer ernannt und unternahm eine radikale Umstrukturierung des Unternehmens. Neben anderem produziert FAVI Getriebegabeln für die Automobilindustrie.
www.FAVI.com
Heiligenfeld
Gesundheitswesen – Deutschland – 600 Mitarbeiter – gewinnorientiert
Die Kliniken Heiligenfeld bestehen aus vier Kliniken für psychische und psychosomatische Erkrankungen und einer Klinik für orthopädische, internistische und onkologische Rehabilitation an Standorten in Bad Kissingen, Uffenheim und Waldmünchen. Das Unternehmen wurde 1990 von Dr. Joachim Galuska und Fritz Lang gegründet, nachdem Galuska erfolglos versucht hatte, seinen ganzheitlichen psychologischen Ansatz in herkömmlichen psychologischen Kliniken anzuwenden.
www.heiligenfeld.de
57Holacracy
Organisationsmodell
Holacracy ist ein Organisationsmodell, das ursprünglich von Brian Robertson und seinem Team bei Ternary Software, einem Start-up-Unternehmen in Philadelphia entwickelt wurde. Nachdem Ternary eine neue Geschäftsführung bekam, gründete Robertson mit Kollegen HolacracyOne, ein Unternehmen für Training, Beratung und Forschung, um dieses neue Organisationsmodell weiter zu verbreiten. Holacracy wurde seitdem von kleineren und größeren gewinnorientierten und gemeinnützigen Organisationen auf verschiedenen Kontinenten angewendet.
www.holacracy.org
Morning Star
Nahrungsmittelproduktion – USA – 400 bis 2.400 Mitarbeiter – gewinnorientiert
Morning Star wurde 1970 von Chris Rufer gegründet, damals bestand es aus einem Lkw, der Tomaten transportierte. Heute hält es den größten Marktanteil an der der Verarbeitung und dem Transport von Tomaten in den USA. Wenn Sie schon einmal in den USA eine Pizza oder Spaghettisoße gegessen haben, dann haben Sie wahrscheinlich ein Produkt von Morning Star verzehrt.
www.morningstarco.com
Patagonia
Funktionskleidung – USA – 1.350 Mitarbeiter – gewinnorientiert
Yvon Chouinard, der vielleicht ungewöhnlichste Geschäftsmann überhaupt, gründete das Unternehmen, das später zu Patagonia wurde, im Jahre 1957, um Stahlhaken zum Klettern zu produzieren. Die in Kalifornien ansässige Firma wurde zu einem führenden Produzenten von Outdoor-Funktionskleidung, wobei eine positive Wirkung auf die Umwelt ein wichtiges Anliegen des Unternehmens ist.
www.patagonia.com
RHD (Resources for Human Development)
Gesundheitswesen und Sozialarbeit – USA – 4.000 Mitarbeiter – gemeinnützig
RHD ist ein gemeinnütziges Unternehmen aus Philadelphia, das in 14 Ländern tätig ist. Durch verschiedene Unterkunftsmöglichkeiten, Wohnheime und Programme werden Menschen unterstützt, die von geistiger Behinderung, Suchterkrankungen und Obdachlosigkeit betroffen sind. RHD wurde 1970 von Robert Fishman gegründet.
www.rhd.org
58Sounds True
Medien – USA – 90 Mitarbeiter und 20 Hunde – gewinnorientiert
Sounds True widmet sich der Verbreitung spiritueller Weisheit durch Audioaufnahmen von spirituellen Lehrern, Hörbüchern, Online-Kursen und Musik. Das Unternehmen wurde 1985 von Tami Simon gegründet, die heute noch die Firma leitet.
www.soundstrue.com
Sun Hydraulics
Hydraulische Teile – Global – 900 Mitarbeiter – gewinnorientiert
Sun Hydraulics, ein Unternehmen, das 1970 von zwei Ingenieuren gegründet wurde, konzipiert und produziert unter anderem Ventilgehäuse und Einschraubventile. Heute ist es ein börsennotiertes Unternehmen mit der Firmenzentrale in Florida und Fabriken in Kansas, England, Deutschland und Korea.
www.sunhydraulics.com
Aus methodischen Gründen wurden nur Organisationen mit mindestens 100 Mitarbeitern eingehend untersucht. (Zugegeben, ich habe bei Sounds True ein bisschen geschummelt, indem ich die 20 Hunde hinzugezählt habe. Mehr über die Hunde bei Sounds True und warum es nicht vollkommen unangebracht ist, sie mitzuzählen, finden Sie zu Beginn des Kapitels 2.4.) Wenn es relevant ist, werde ich im Laufe der nächsten Kapitel auch beeindruckende Praktiken aus anderen Organisationen erwähnen: Ozvision, ein japanisches Internetunternehmen; Center for Courage & Renewal, eine gemeinnützige Organisation zur Erwachsenenbildung, die Parker Palmers Arbeit mit Führungskräften in der Pädagogik, Gesundheitsversorgung, Kirche und Wirtschaft unterstützt; Realize!, eine kleine holländische Organisationsberatung; Valve, ein Unternehmen für Spiele-Software in Seattle; und andere.
Unter den aufgeführten Organisationen liefern AES und BSO/Origin besondere Erkenntnisse, wenn auch die Gründe dafür nicht so positiv sind. Während der zwei Jahrzehnte, in denen sie mit einer Reihe evolutionärer Praktiken und Strukturen arbeiteten, erreichten die Organisationen spektakuläre Ergebnisse. Aber unter einer neuen Geschäftsführung haben sie sich wieder auf konventionellere Managementansätze zurückgezogen. Heute ist vom zukunftsweisenden evolutionären Führungsstil nicht mehr viel übrig. Ihre Geschichte bietet wichtige Einsichten über die Bedingungen für evolutionäre Praktiken, ein Thema, das im dritten Kapitel des Buches angesprochen wird.
Die Art und Weise, wie ich Organisationen mit Stufen der menschlichen Entwicklung im ersten Kapitel dieses Buches (siehe Seite 40) verknüpft habe, trifft natürlich auch auf die integrale evolutionäre Stufe zu. Wenn ich der Einfachheit halber von „evolutionären Organisationen“ spreche, dann meine ich damit nicht, dass alle Mitarbeiter und alle täglichen Interaktionen Ausdruck des integralen evolutionären Paradigmas sind. Wie ich schon im Kapitel 1.2 ausgeführt habe, ist unsere menschliche Natur (glücklicherweise) viel zu komplex, als dass wir sie auf eine Bezeichnung reduzieren könnten. Stattdessen möchte ich darauf hinweisen, dass 59viele oder die meisten Strukturen, Praktiken und kulturellen Aspekte dieser Organisationen ein Ausdruck der integralen evolutionären Bewusstseinsstufe sind.
Einige der untersuchten Organisationen können wir als fast vollkommen „evolutionär“ bezeichnen. Die meisten aber stellen eine Mischung dar – in einigen Bereichen haben sie über längere Zeit integrale evolutionäre Praktiken zur Innovation genutzt, während sie in anderen Bereichen mit modernen oder postmodernen Praktiken arbeiten. Ein extremes Beispiel ist Morning Star, das Unternehmen, das Tomaten verarbeitet: Hier wird der Durchbruch der Selbstführung zu einem außerordentlichen Ausmaß angewendet und verfeinert, aber die anderen beiden Durchbrüche evolutionärer Organisationen werden nicht implementiert. Deshalb ist es angebracht, es als ein postmodern-evolutionäres Unternehmen zu bezeichnen, und das Gleiche gilt für einige andere Organisationen in dieser Recherche. Zum Glück wird dadurch die Aussagekraft dieser Untersuchung nicht beeinträchtigt: Obwohl in einigen Organisationen Teile einer evolutionären Perspektive fehlen, finden wir doch zusammengenommen in jedem Bereich genug überlappende Beispiele, sodass ein vollständiges Bild entstehen kann. Aufgrund der spezifischen Innovationen kann das integrale evolutionäre Organisationsmodell in ausreichenden Einzelheiten beschrieben werden, um für andere Organisationen, die in gleicher Weise funktionieren möchten, praktische Hinweise zu geben. Wir können sogar zwischen Strukturen und Praktiken unterscheiden, die bei allen Organisationsformen angewendet werden können, und denjenigen, die an die Merkmale bestimmter Unternehmen oder Branchen angepasst werden müssen.
2.2 Selbstführung (Strukturen)
Warum arbeiten viele Menschen so hart, um dann nach Disneyland zu flüchten? Warum sind Videospiele beliebter als Arbeit? ...Warum verbringen viele Menschen viele Jahre damit, die Rente herbeizusehnen und Pläne für diese Zeit zu schmieden? Der Grund dafür ist einfach und desillusionierend. Wir haben unsere Arbeitsplätze zu frustrierenden und freudlosen Orten gemacht, wo Menschen tun, was ihnen gesagt wird. Nur wenige haben die Möglichkeiten, sich bei der Entscheidungsfindung einzubringen und ihre Talente zu nutzen. Als natürliche Folge fühlen sie sich von Aktivitäten angezogen, durch die sie ein gewisses Maß von Kontrolle über ihr Leben ausüben können. In den meisten Organisationen, die ich überall auf der Welt kennenlernte, … befinden sich die Büros immer noch „über“ den Arbeitern. Dort werden oft ohne Rücksprache mit den einfachen Arbeitern oder Angestellten Entscheidungen getroffen, die deren Leben dramatisch beeinflussen.
Dennis Bakke (Gründer von AES)
Die Konzentration von Macht an der Spitze, wodurch Kollegen in Mächtige und Machtlose aufgeteilt werden, führt zu Problemen, mit denen Organisationen seit ihren Anfängen zu tun haben. Macht wird in Organisationen als Mangelware 60gesehen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Dadurch werden unweigerlich die negativen Seiten des menschlichen Charakters stimuliert: persönlicher Ehrgeiz, politische Schachzüge, Misstrauen, Angst und Gier. Am Boden der Organisationen erleben Menschen oft die beiden Begleiterscheinungen der Machtlosigkeit: Resignation und Wut. Die Gewerkschaften sind aus dem Versuch entstanden, die Macht der unteren Schichten durch Zusammenschluss zu vergrößern, um der Macht von oben etwas entgegenzusetzen (die im Gegenzug versucht, die Macht der Gewerkschaften zu schwächen).
Der weitverbreitete Mangel an Motivation, den wir in vielen Organisationen vorfinden, ist ein verheerender Nebeneffekt der ungleichen Machtverteilung. Für wenige Glückliche ist der Arbeitsplatz ein Ort freudvollen Selbstausdrucks, wo sie in kollegialer Verbundenheit mit anderen Mitarbeitern ein sinnvolles Ziel verfolgen. Aber für zu viele Menschen ist die Arbeit einfach nur ein notwendiges Übel – ein paar Stunden des Lebens, die man „vermietet“, um dafür eine Gehaltsabrechnung zu bekommen. Die Geschichte der arbeitenden Menschen weltweit ist allzu oft von einer traurigen Verschwendung von Talent und Energie gekennzeichnet.
Wenn Sie der Ansicht sind, dass diese Einschätzung übertrieben ist, dann bedenken Sie die Studie, die 2012 von Tower Watson, einer Beratungsfirma im Bereich Personalentwicklung, durchgeführt wurde. Dabei wurden 32.000 Mitarbeiter in Unternehmen aus 29 Ländern gebeten, die Arbeitseinstellung bei Mitarbeitern (und die Schlüsselfaktoren, die die Arbeitseinstellung beeinflussen, wie Vertrauen in das leitende Management und Interesse der Leitung am Wohlbefinden der Angestellten) zu bewerten. Das Ergebnis sah so aus: Nur etwa ein Drittel der Testpersonen war wirklich mit Engagement bei ihrer Arbeit (35 Prozent). Weitaus mehr Menschen zeigten eine „gleichgültige“ Einstellung oder hatten „innerlich gekündigt“ (43 Prozent). Die restlichen 22 Prozent fühlten sich „nicht unterstützt“. Diese Studie ist keine negative Ausnahme. Die gleiche Untersuchung wird seit Jahren immer wieder durchgeführt und manchmal war dabei das Ergebnis noch schlechter. Gary Hamel, ein Experte für Organisationsentwicklung, bezeichnet solche Testergebnisse treffend als die Schande des Managements.
Postmoderne pluralistische Organisationen versuchen, auf das Problem der Machtungleichheit mit Empowerment zu reagieren, wobei Entscheidungen in der Pyramide nach unten verlagert werden. Dadurch erreichen sie oft eine weitaus bessere Arbeitseinstellung der Mitarbeiter. Aber Empowerment bedeutet, dass jemand an der Spitze so weise oder großzügig ist, dass er oder sie etwas von der eigenen Macht abgibt. Aber was wäre, wenn Macht kein Nullsummenspiel wäre? Wie wäre es, wenn wir in Organisationen Strukturen und Praktiken schaffen würden, in denen kein Empowerment notwendig ist, weil sie so gestaltet sind, dass alle Macht haben und niemand machtlos ist? Das ist der erste große Durchbruch evolutionärer Organisationen: Sie überwinden das althergebrachte Problem der ungleichen Machtverteilung, weil Strukturen und Praktiken zur Anwendung kommen, in denen niemand Macht über jemand anderen hat. Paradoxerweise wird aber die Organisation dadurch viel mächtiger.
In diesem Kapitel werden wir detailliert die Strukturen untersuchen, durch die selbstführende Organisationen möglich werden – was geschieht mit der 61Machtpyramide, den Unterstützungsfunktionen, dem Leitungsteam, den Projektgruppen, die wir aus heutigen Organisationen kennen? Das darauf folgende Kapitel (2.3) wird dann die Praktiken beschreiben, die notwendig sind, damit Selbstführung anwendbar wird: Wer trifft welche Entscheidungen? Wie ist der Informationsfluss? Wie werden Mitarbeiter in diesen neuen Strukturen beurteilt, befördert und bezahlt?
Ein Fallbeispiel: von modern zu integral
Buurtzorg ist eine niederländische Organisation für häusliche Krankenpflege und wahrscheinlich das beste Fallbeispiel, um den Übergang vom heute vorherrschenden Organisationsmodell (modern-leistungsorientiert) zum neu entstehenden Paradigma integraler evolutionärer Organisationen zu beschreiben.
Zu Beginn einige Hintergrundinformationen: Seit dem 19. Jahrhundert gab es in den Niederlanden in jeder Nachbarschaft eine zuständige Krankenschwester, die Hausbesuche machte, um die Kranken und Alten zu pflegen. Solche mobilen Pflegekräfte sind ein wichtiger Teil des niederländischen Gesundheitswesens, und sie arbeiten eng mit den Hausärzten und Krankenhäusern zusammen. Während der 1990er Jahre kamen die Krankenkassen (die mit der Zeit den größten Teil der Kosten für die mobile Krankenpflege übernahmen) auf eine folgenreiche Idee: Könnte man die selbstständigen Krankenschwestern und -pfleger nicht in Organisationen zusammenschließen? Schließlich gäbe es offensichtliche ökonomische Vorteile, wenn die Krankenpflege derart organisiert wäre. Wenn eine Pflegekraft im Urlaub oder krank ist oder ihre Schicht beendet hat, dann könnte jemand anderes die Arbeit übernehmen. Wenn eine Krankenschwester zu viel Arbeit hat, während eine andere gerade nicht so viel zu tun hat, dann könnte die Organisation die Arbeitsbelastung aufteilen. Zudem hat nicht jede Pflegekraft Erfahrungen mit jeder Erkrankung, deshalb könnten sie sich in einer Organisation in ihren Fertigkeiten ergänzen.
Schon bald verschmolzen die Organisationen, die die Pflegekräfte zusammenbrachten, miteinander, um eine immer größere Anzahl von Menschen betreuen zu können. In den Jahren von 1990 bis 1995 wurden aus 286 Organisationen nur noch 86. Stück für Stück verschaffte sich das moderne leistungsorientierte Denken immer mehr Raum. Im Zuge dessen wurden auch die Aufgaben spezialisiert: Einige Mitarbeiter kümmerten sich um neue Patienten und planten, wie die Pflegekräfte sie am besten unterstützen könnten. Es wurden spezielle Mitarbeiter zur Planung eingestellt, die für die Pflegekräfte einen Tagesplan erstellten und dabei die Fahrwege zwischen den Patienten optimierten. Es wurden Callcenter eingerichtet, die auf die telefonischen Anfragen antworten konnten. Angesichts der zunehmenden Größe der Organisationen wurden Regionalleiter und Manager benannt, die die Pflegekräfte vor Ort betreuten. Um eine genaue Planung zu gewährleisten und die Effektivität zu erhöhen, wurden für jede Behandlungsmaßnahme Zeitnormen festgelegt. Für intravenöse Injektionen wurden genau zehn Minuten vorgesehen, ein Bad durfte fünfzehn Minuten dauern, ein Verbandswechsel zehn Minuten und der Wechsel von Kompressionstrümpfen nur zweieinhalb Minuten. Um die Kosten zu reduzieren, 62wurden diese Behandlungen (die nun „Produkte“ genannt wurden), nach der dafür nötigen Fachkenntnis aufgeteilt. Die erfahreneren und dadurch auch teureren Pflegekräfte leisteten nur noch die schwierigeren „Produkte“, damit die kostengünstigeren Pflegekräfte die einfacheren Tätigkeiten übernehmen konnten. Um die Effizienz zu messen, wurde in jeder Patientenwohnung ein Aufkleber mit einem Barcode angebracht. Nach jedem Besuch mussten die Pflegekräfte den Barcode scannen und zudem das „Produkt“ eingeben, das sie geleistet hatten. Alle Aktivitäten wurden so in der Zentrale zeitlich erfasst und konnten beobachtet und analysiert werden.
Jede dieser Veränderungen ist in der modernen leistungsorientierten Ausrichtung des Wirtschaftens nach Größe und Fertigkeit völlig plausibel. Aber die allgemeinen Ergebnisse waren sowohl für die Pflegekräfte als auch für die Patienten desaströs. Die Patienten verloren die persönliche Beziehung, die sie mit den Pflegekräften hatten. Jeden Tag (oder mehrere Male am Tag, wenn ihre Erkrankung es erforderte) kam ein neues Gesicht in ihr Zuhause. Die Patienten, die oft alt und geistig beeinträchtigt waren, mussten sich anstrengen, jedes Mal von Neuem ihre Krankengeschichte zu erzählen – für eine unbekannte Pflegekraft unter Zeitdruck, in deren Tagesplan Zuhören nicht kalkuliert wurde. Die Krankenschwester wechselte den Verband, verabreichte eine Spritze und schon war sie wieder weg. Das System hatte die Patienten als Menschen vernachlässigt; die Patienten wurden zu Kunden, denen man Produkte verkauft. Die menschliche Verbindung war verloren gegangen und auch die medizinische Qualität litt darunter: Es gab keine Kontinuität in der Pflege und wenn jeden Tag eine andere Pflegekraft kommt, werden die wichtigen Hinweise auf die Entwicklung des Befindens eines Patienten leicht übersehen.
Die Pflegekräfte selbst empfanden diese Arbeitsbedingungen als herabwürdigend. Die meisten von ihnen sahen in ihrer Arbeit eine Berufung, weil sie Bedürftigen helfen wollten. Mit Krankenpflege kann man nicht reich werden, und die soeben beschriebenen Praktiken verhöhnten das tiefere Anliegen ihrer Berufung. Eine der Krankenschwestern, die heute bei Buurtzorg arbeitet, sagt über ihre Tätigkeit in einer dieser Organisationen für mobile Krankenpflege:
Dieses elektronische System zur Registrierung, das man den ganzen Tag mitschleppen muss, macht einen wahnsinnig. An manchen Abenden musste ich 19 Patienten behandeln. Dabei hat man gerade mal Zeit, in die Wohnung zu rennen, einen Verband zu wechseln, eine Spritze zu geben und weiter zu fahren. Man kann keine gute Arbeit leisten. Und wenn man nach Hause geht, denkt man ständig, „Ich hoffe, die Krankenschwester nach mir vergisst nicht dieses oder jenes.“[1]
Eine andere Krankenschwester berichtet Ähnliches:
Während der letzten Jahre war ich für 80 Patienten verantwortlich, die ich nie wirklich kennenlernen konnte. … Die Pläne wurden in der Zentrale von jemandem erstellt, der die Patienten auch nicht kannte. Diese Planungen gingen oft nicht auf, und ich wusste irgendwann nicht mehr, wie ich den Patienten erklären sollte, warum niemand kommt oder die verabredete Zeit nicht eingehalten wurde. In sieben Jahren sah ich sieben Manager kommen und gehen, das war ermüdend. Die Organisation war zu groß und zu schwierig, um sie zu führen. Und niemand fühlte sich für die
63Pflege der Patienten zuständig. Zudem gab es jeden Tag Klagen und Konflikte unter den Kollegen.[2]
Und eine dritte Krankenschwester erzählt die folgende Geschichte:
Als die Organisation, für die ich vorher gearbeitet hatte, verlangte, dass wir den Patienten Medikamente verkaufen sollten, war für mich Schluss. Es ging um Produkte der betriebseigenen Apotheke. Für uns war das schrecklich, weil unser Fachwissen und unsere Integrität missbraucht wurden. … Für mich und viele Kolleginnen war dies ein Wendepunkt in unserer Loyalität gegenüber unserem Arbeitgeber.[3]
Auch für die Menschen, die in der Firmenzentrale dieser Organisationen tätig sind, ist diese Arbeit nicht besonders erfüllend. Mit dem Wachstum der Unternehmen vermehrten sich auch die Ebenen des Managements. Die Manager jeder Ebene versuchen, ihre Arbeit gut zu machen – sie lesen die Berichte der Pflegekräfte, achten auf Abweichungen von der Finanzplanung, überprüfen Materialanfragen und stellen sicher, dass alle Vorgesetzten informiert sind, bevor eine neue relevante Entscheidung getroffen wird. Aber in diesem Prozess werden Motivation und Eigeninitiative erschöpft.
Buurtzorg, die Organisation, die eine Revolution in der mobilen Krankenpflege ausgelöst hat, wurde Ende 2006 von Jos de Blok gegründet. Jos war zehn Jahre lang Krankenpfleger und stieg dann die Karriereleiter nach oben und übernahm in einem Krankenpflegeunternehmen leitende Managementfunktionen. Aber als er bemerkte, dass er keine Veränderung von innen herbeiführen konnte, entschloss er sich, seine eigene Organisation zu gründen.[4] Die Krankenpflege und die Organisationsstruktur wurden nun von einem völlig anderen Paradigma getragen. Und Buurtzorg wurde extrem erfolgreich. Sie wuchs in sieben Jahren von zehn auf 7.000 Pflegekräfte und erreichte eine herausragende Qualität in der Pflege.
Selbstführende Teams
Bei Buurtzorg (was auf Holländisch so viel heißt wie „Nachbarschaftspflege“) arbeiten die Pflegekräfte in Teams von zehn bis zwölf Mitarbeitern, wobei jedes Team ungefähr 50 Patienten in einer kleinen, klar definierten Nachbarschaft betreut. Das Team trägt die Verantwortung für alle Aufgaben, die zuvor über verschiedene Abteilungen verteilt waren. Die Teammitglieder sind nicht nur für die Pflege verantwortlich, sondern auch dafür, wie viele Patienten sie annehmen. Sie erledigen die Aufnahme neuer Patienten, die Planung, die Festlegung der Urlaube und der Dienste an Feiertagen. Sie sind zudem für die Verwaltungsaufgaben zuständig. Die Teammitglieder entscheiden, wo ein Büro gemietet wird und wie die Einrichtung gestaltet werden soll. Sie überlegen, wie sie sich am besten in die lokale Umgebung einfügen können, mit welchen Ärzten und Apotheken sie zusammenarbeiten möchten und wie sie gute Arbeitsbeziehungen zu den lokalen Krankenhäusern aufbauen können. Sie entscheiden, wann sie sich treffen und wie sie die Aufgaben unter sich aufteilen. Und sie entwerfen auch Fortbildungspläne für einzelne Mitarbeiter und das gesamte Team. Wenn die Anzahl der Patienten die Kapazitäten überschreitet, dann wird im Team entschieden, 64ob mehr Mitarbeiter eingestellt werden sollen, oder ob das Team sich aufteilt. Das Team überwacht zudem die eigenen Leistungen und entscheidet über korrigierendes Eingreifen, wenn die Produktivität sinkt. Im Team gibt es keinen Führenden; die wichtigen Entscheidungen werden kollektiv getroffen.
Dadurch ist die Pflege nicht länger fragmentiert. So weit wie möglich werden die Pläne so angelegt, dass ein Patient immer von den gleichen Pflegekräften betreut wird. Die Krankenschwestern und -pfleger nehmen sich die Zeit, sich zu den Patienten zu setzen und einen Kaffee mit ihnen zu trinken. Dadurch lernen sie die Patienten besser kennen und erfahren etwas über ihr Leben, ihre Vorlieben und Gewohnheiten. Im Laufe von Tagen und Wochen kann sich in dieser Beziehung ein tiefes Vertrauen einstellen. Dadurch wird Pflege nicht länger auf einen Verbandswechsel oder eine Injektion reduziert – die Patienten können in ihrer Ganzheit gesehen und wertgeschätzt werden. Dabei werden nicht nur ihre körperlichen Bedürfnisse beachtet, sondern auch ihre emotionalen Anliegen, ihr Wunsch nach Beziehung und ihre spirituellen Bedürfnisse. Ein Beispiel: Eine Krankenschwester spürt, dass eine stolze alte Dame ihre Freunde nicht mehr zum Besuch einlädt, weil sie sich für ihr krankes Aussehen schämt. Die Krankenschwester könnte dann zum Beispiel organisieren, dass ein Friseur zu der Dame nach Hause kommt, oder sie ruft die Tochter an, und schlägt vor, ein paar neue Kleidungsstücke zu kaufen.
Zudem legt Buurtzorg ein starkes Augenmerk auf die Selbstständigkeit der Patienten. Das Ziel dabei ist, den Patienten zu helfen, sich soweit zu stabilisieren, dass sie wieder für sich selbst sorgen können. Wie können Patienten lernen, einige Tätigkeiten wieder selbst zu übernehmen? Können die Patienten ein Unterstützernetzwerk mobilisieren? Gibt es Familienmitglieder, Freunde oder Nachbarn, die sie besuchen und ihnen regelmäßig helfen könnten? Die Pflegekräfte klingeln oft bei Nachbarn, um herauszufinden, ob sie sich vorstellen könnten, der alten Frau nebenan in irgendeiner Weise zu helfen. In effektiver Weise versucht Buurtzorg, sich so weit wie möglich überflüssig zu machen. Die Berufung der Pflegekräfte ist im wahrsten Sinne wiederhergestellt: Das Wohlbefinden des Patienten steht über den Eigeninteressen der Organisation. Die Folge davon ist, dass die Patienten von der Pflege durch Buurtzorg begeistert sind. Das gilt auch für die Familien der Patienten, die oft eine tiefe Dankbarkeit für die wichtige Rolle zum Ausdruck bringen, die die Pflegekräfte im Leben der kranken und alten Menschen übernommen haben (es geschieht immer wieder, dass Krankenschwestern und- pfleger ihre Patienten auch in den letzten Momenten des Sterbens begleiten).
Unglaubliche Ergebnisse
Die Ergebnisse, die Buurtzorg im Hinblick auf die medizinische Versorgung erreicht, sind unglaublich positiv. Eine Studie von Ernst & Young aus dem Jahre 2009 kam zu dem Ergebnis, dass bei Buurtzorg im Durchschnitt 40 Prozent weniger Arbeitsstunden pro Patient für die Pflege nötig sind als bei anderen Krankenpflegeunternehmen. Das ist ironisch, wenn man bedenkt, dass Pflegekräfte bei Buurtzorg sich Zeit für einen Kaffee und Gespräche mit den Patienten, 65Familien und Nachbarn nehmen, während andere Organisationen ihre „Produkte“ minutiös planen und abrechnen. Zudem verbleiben die Patienten nur halb solang in der Pflege, genesen schneller und werden selbstständiger. Ein Drittel der Einweisungen in eine Notaufnahme werden vermieden. Wenn aber ein Patient in die Notaufnahme eingeliefert werden muss, dann ist der Aufenthalt dort im Durchschnitt kürzer. Die Einsparungen für das holländische Gesundheitssystem sind beträchtlich – Ernst & Young schätzt, dass jährlich etwa zwei Milliarden Euro in den Niederlanden eingespart werden könnten, wenn alle Einrichtungen für mobile Krankenpflege die Ergebnisse von Buurtzorg erreichen würden. Wenn man diese Rechnung auf die Bevölkerung der USA anwendet, dann kommt man ungefähr auf eine Ersparnis von 49 Milliarden Dollar. Nicht schlecht für die mobile Krankenpflege. Man kann sich vorstellen, was es bedeuten könnte, wenn ungleich größere Krankenhäuser in einer ähnlichen Weise strukturiert wären.
Details
- Seiten
- 356
- ISBN (eBook)
- 9783800649143
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Mai)
- Schlagworte
- Dynamics Management Spiral Systemtheorie Wahrnehmung